Der Hintergrund für Marvel 1602 ist unlängst bekannt: Aufgrund der Terroranschläge vom 11. September 2001 wollte Erfolgsautor Neil Gaiman (Sandman) kein Szenario zwischen Wolkenkratzern schreiben. So vollzog er die literarische Flucht „nach hinten“. Also ab in die Vergangenheit! Bei Panini Comics ist im Frühjahr eine weitere (Softcover-)Gesamtausgabe der von Kritikern und Publikum gleichermaßen gefeierten Serie erschienen. Offensichtlich traf er mit seinem eskapistischen Rückzug den Nerv der Zeit. Jedenfalls hat sich Gaiman mit Andy Kubert (Wolverine – Origin) zusammengetan, um das vertraute Marvel-Universum in das Jahr 1602 zurückzuverlegen.
Im elisabethanischen England greift König James von Schottland nach der Krone, während der Großinquisitor Enrique von Spanien Jagd auf die „Hexenbrut“ – außergewöhnlich Begabte – macht und die Tochter des Führers der Überseekolonien gemeinsam mit einem „Wilden“ um Hilfe bittet. Sir Nicholas Fury und Dr. Stephen Strange haben am Hof der Königin von England alle Hände voll zu tun, während Graf Otto von Doom seine finsteren Pläne schmiedet. Die Welt scheint ohnehin aus den Fugen, da unerklärliche Wetterphänomene als Vorboten des Weltuntergangs gedeutet werden.
Gaiman vermischt hier auf gekonnte Weise Elemente der Science Fiction (Zeitreise, Zeitanomalien, Alternativwelt) mit Fantasy (Riesendrachen, Magie) und steckt das Ganze in einen geschichtlichen Rahmen. Neben den politischen Ränke- und Machtspielen zwischen Vatikan, Inquisition, England und Schottland greift der Autor genauso auf volkskundliche Hintergründe wie Hexenverfolgung zurück, die sich hervorragend für die Marvel-Welt erweist, weil es dort von begabten Mutanten, Magiern und Hexen nur so wimmelt. Problematisch sind aus ethischer Sicht dagegen die post-9/11-Reflexe Gaimans: Zum Beispiel billigt Elisabeth die Anwendung von Folter, was unwillkürlich an die Guantanamo-Exzesse denken lässt und dadurch einen bitteren Nachgeschmack erzeugt.
Die Grafik besticht durch einen starken Hang zum Mystischen und Übernatürlichen. Kuberts individueller Strich weist einen leichten Einschlag zum Rundlichen, Kindlichen auf, was zum Märchenautor Gaiman jedoch hervorragend passt. Die detaillierten Zeichnungen sind außerdem von Schraffuren gekennzeichnet, was den übernatürlichen Effekt noch einmal verstärkt. Das Artwork besticht darüber hinaus durch eine ungewöhnliche Kolorierungstechnik. Richard Isanove trug die leuchtenden Farben direkt auf die Bleistiftzeichnungen Kuberts auf, wodurch ein besonderer Effekt entsteht. Die gewöhnlich starken Tuschekonturen fehlen dadurch, was die Figuren plastischer erscheinen lässt. Die Kolorierung selbst wird von mystisch wirkenden Farben dominiert: violett, rosa, türkis und blau.
Gaiman hat mit Marvel 1602 innerhalb des Superheldengenres für viel Furore gesorgt. Seine märchenhafte Parallelwelt ist als traumatisierte Reaktion auf 9/11 zu verstehen und deshalb mit Vorsicht zu lesen. Trotzdem kann die grandios erzählte Geschichte in den Bann ziehen und auch für Gelegenheitssuperheldencomicleser interessant sein, die sich für Genre-Crossover oder märchenhaft-morbide Geschichten begeistern. Die Zeichnungen Kuberts sind einmalig und werden durch die außergewöhnliche Kolorierung Isanoves ergänzt.
Marvel 1602 (Gesamtausgabe)
Panini Comics, April 2010
Text: Neil Gaiman
Zeichnungen: Andy Kubert
Softcover, Seiten, farbig; 19,95€
ISBN: 978-3866079304
Leseprobe bei myComics (34 Seiten)
Die spannende Geschichte und die magischen Bilder ziehen in ihren Bann!
Abbildungen © Andy Kubert, der dt. Ausgabe Panini Comics