Rezensionen

Erotische Comics


Erotische ComicsSelten hat es ein Cover geschafft, die Essenz eines Buches so gut einzufangen, wie das Titelbild von Erotische Comics. Unser voyeuristischer Blick gleitet von den roten High Heels langsam über die Strapse nach oben. Er umspielt einen kleinen Augenblick zu lange das wohlgeformte Hinterteil; erst dann führt er uns weiter über das adrette weiße Kleidchen und über die süße Schleife hin zu einem wilden Rotschopf. Gelenkt von unserer male gaze nehmen wir Stück für Stück wahr, wie sich die einzelnen Details zu einer kompletten Frau zusammenfügen, die ihrerseits jemanden durch ein Schlüsselloch beobachtet. Obwohl nicht wir das Objekt ihrer Begierde sind, wird uns schlagartig klar, dass wir sie mit unseren Augen ausgezogen haben. Ein Gefühl der Scham setzt ein. Dieses ständige Spiel zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Betrachten und betrachtet werden, verfolgt Autor Tim Pilcher über zwei Jahrhunderte und gibt dem geneigten Leser dabei einen interessanten Einblick in das stets wechselnde Verhältnis von Kultur und Sexualität.

(Anmerkung der Red.: Das Cover des Buches stammt aus dem argentinischen Wochenmagazin Caricatura vom siebten Februar 1936. Wer genauere Informationen über den Künstler hat, möge sich bei uns melden.)

Die zentrale Frage, die sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht, lautet wie folgt: An welcher Stelle droht die Erotik ins Pornografische abzudriften? Natürlich hält der Autor des Buches, Tim Pilcher, nach zwei Jahren Recherche für diese Frage eine passende Antwort parat. Die gibt er auf den ersten Seiten von Erotische Comics und belegt sie anhand von Beispielen im Buch: Die Kunst der Erotik folgt einer Ästhetisierung der Sexualität, die anstelle eines Hardcore-Pornos oder eines Table Dance, ihre Objekte nicht nur zeigt, sondern den Blick des Betrachters bewusst lenkt, wie am Cover beschrieben. Natürlich hängt dieser schmale Grat von der persönlichen Perspektive ab, gesteht Pilcher. Die vorgestellten Künstler erschaffen keine Wichsvorlagen, sondern ernsthafte Interpretation von Sexualität, sie lassen Leerstellen für den Leser und verheimlichen an den richtigen Stellen, was sich unter dem Rock oder hinter dem Schlüsselloch befindet.

Postkarte von Chéri HérouardAngeregt durch Maurice Horns Sex in the Comics folgt Pilcher in seinem Buch selbst dem Konzept des Blickelenkens. Während schöne Reproduktionen von japanischen Rollbildern und Tijuana Bibles die Grundlage für seine Beobachtungen schaffen, lenkt Pilcher den Blick seiner Leser weg von dem Dargestellten, hin zu den Fragen, die sich hinter den nackten und halbbekleideten Figuren verbergen. Die Geschichte, die der Autor erzählt, handelt eben nicht von japanischen Sexorgien, sondern von dem Verhältnis von Kultur und Sexualität, von der Tabuisierung ihrer Darstellung im prüden Viktorianischen Zeitalter und von den kleinen sexuellen Revolutionen, die diese Comics ausgelöst haben.

Bill Ward – Meister der GlanzlichterPilcher drängt mit seinem Buch den Leser dazu, seine Ansichten über erotische Comics zu überdenken. Von einer Seite zur nächsten verschwimmen die klaren Grenzen zwischen dem, was normal, und dem, was abnormal erscheint. Zum Vorschein kommt neben der unschuldigen Pin-up-Erotik (wie z.B. Fannie Annie im Playboy oder die nose art von Alberto Vargas) die dunkle Seite der Erotik, die Bondage Babes und die Sewage Sluts. Bondage-Künstler wie Eric Stanton drückten zusammen mit Steve Ditko die Schulbank der Visual Art School in New York und teilten sich ein Atelier. Die bewusste Trennung von Erotik und Comic verschwindet. Auch die Tatsache, dass Martin Goodwin, Mitbegründer von Timely Comics, eigentlich als Herausgeber von Männermagazinen wie Humorama bekannt wurde, erkennt den Silver Age Comics ihr Saubermann-Image ab.

Ron Embletons Oh, Wicked Wanda!Neben dem ausschweifenden Kapitel über die saubere und doch humorvolle Erotik von Will Elder, Harvey Kurtzman und Hugh Hefners Playboy Comics, zeigt das Kapitel über Underground Comix die Erotik nur als ein Element der Kultur-Revolution. Geschickt trennt Pilcher Robert Crumb von seiner Comicfigur R. Crumb und den anderen sexsüchtigen Charakteren, um so zwischen Crumbs Sexphantasien und seiner Kunst zu unterscheiden. Einen fahlen Nachgeschmack hinterlässt das letzte, gänzlich unausgereifte Kapitel, dessen englischer Titel „Abandonment Abroad“ im Deutschen mit „Latin Lovers“ übersetzt wurde. Hastig werden hier erotische Comics in Europa angerissen, wie z.B. die italienischen fumetti neri, ohne dabei Raum für Manaras Frauen zu lassen, die erst im zweiten englischen Band ihre Bühne bekommen. Dafür tauchen umso mehr französische Zeichner auf und erst auf der letzten Seite wird es dann noch kurz lateinamerikanisch.

Im Angesicht aufreizend hübscher Comicfrauen, expliziter Darstellung von Geschlechtsverkehr und anrüchigen Hintergründen gelingt es Pilcher, eine sachliche Dokumentation der Erotik im Comic zu verfassen. Zusammen mit den wundervoll präsentierten Reproduktionen bietet Erotische Comics einen unschätzbaren Fundus an Informationen, die sich hinter der nackten Fassade verbergen. Da kann man es Pilcher auch nicht vorhalten, wenn er sich doch einmal zu einem schmutzigen Wortspiel hinreißen lässt: „Doch der Samen des Aufruhrs keimte nun unwiderruflich.“ Wenn sich der Knesebeck-Verlag dazu durchringen kann nun auch den zweiten Band auf Deutsch zu veröffentlichen, dann darf man sich auf japanische Hentais, Milo Manara, ein Vorwort von Alan Moore und Exponate freuen, die selbst für den Autor die Grenze zwischen Pornografie und Erotik überschreiten.

Erotische Comics: Das Beste aus zwei Jahrhunderten
Knesebeck Verlag, Februar 2010
Text: Tim Pilcher
Hardcover, farbig; 192 Seiten, 24,95 Euro
ISBN: 978-3-86873-190-3

Eine erotische Perle zum Lesen oder einfach nur zum Betrachten.

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Abbildungen: © Knesebeck Verlag

Tim Pilchers Blog