Aufmerksamen Beobachtern ist es nicht entgangen: Immer wieder kommt es vor, dass Comics veröffentlicht werden, oft sogar für Geld. Die Comicgate-Redakteure Wederhake und Frisch wollen diese Entwicklung nicht länger unkommentiert lassen. Heute gelesen: Wonder Woman: Blood von Brian Azzarello, Cliff Chiang, Tony Akins et al. und Der Boxer. Die wahre Geschichte des Hertzko Haft von Reinhard Kleist.
FRISCH: Wederhake, wir müssen mal reden.
Ich war ja schon letztes Jahr bei Begutachtung des ersten Hefts nicht restlos überzeugt. Und, nun ja, die Serie ist danach nicht besser geworden, sondern alberner, konventioneller und – in den letzten beiden Kapiteln des ersten Bandes –schlechter gezeichnet. Nun frage ich mich, wieso Brian Azzarello, der nach 100 Bullets ja doch einen gewissen Ruf zu verlieren hat, sich das überhaupt antut.*
Ich meine, bis kurz vor Druck war man sich bei DC ja nicht mal darüber einig, ob die Figur Hosen tragen soll, da kann sich ja jeder ausmalen, was für ein Heckmeck das hinter den Kulissen gewesen sein muss. (Oder einfach George Pérez fragen, der zuerst die neue Superman-Serie schrieb und zeichnete, dann aber lieber nicht mehr: „Entscheidungen werden auf Schritt und Tritt in Frage gestellt, ein Fall von zu vielen Häuptlingen und zu wenigen Indianern. … An einem Tag bekam ich grünes Licht für meine Ideen, am nächsten hatten sie sich’s anders überlegt, und das wurde mir zu viel, es hat uns zu lange aufgehalten. … Die wollten für Superman keinen Autor, sondern eine Schreibmaschine.“ Danke, George Pérez.)
Die Story plätschert erstmal ganz nett vor sich hin, doch dann, im dritten Kapitel, der Schocker: Wonder Woman erfährt, dass sie von ihrer Mutter nicht aus Lehm geformt worden ist, sondern, Schockschwerenot, die Tochter eines Vaters ist. Was sie veranlasst, einen Wutanfall zu kriegen, zu schmollen wie eine Vierzehnjährige und schnurstracks zu einem Heavy-Metal-Konzert (!) zu rennen. Nun ist diese Art von Albernheit für DC-Comics nicht ungewöhnlich – wir erinnern uns alle daran, wie Hal Jordan in den Neunzigern ausrastete, als er erfuhr, dass er nicht vom Storch gebracht worden war (oder so ähnlich). Aber ausgerechnet bei Brian Azzarello? Hat der nichts Besseres zu tun, als bei so einem Unfug mitzumachen?**
Nichts für ungut. Wonder Woman ist kein furchtbarer Comic. Ich verstehe zwar nicht, wieso Wonder Womans Mutter am Ende von Kapitel 4 in Milchschokolade verwandelt wird, und ich bin auch kein Fan der – wegen Zeitmangels, vermutlich; wir erinnern uns an George Pérez – zunehmend grausligeren Zeichnungen von Tony Akins in den letzten beiden Kapiteln, dem es offenbar ein dringendes Anliegen war, den Brustkorb der Hauptfigur zu verstärken. Aber insgesamt ist es halt ein komplett gewöhnlicher, wie üblich reichlich sinnbefreiter und unspektakulärer Wonder-Woman-Comic mit einer Handvoll ganz netter Ideen und Zeichnungen, der (wieder mal) versucht, die Ursprungsgeschichte der Figur umzubauen, und der dabei (wieder mal) an den Klippen der DC-Continuity zerschellt, ohne auch nur ansatzweise eine Art Alleinstellungsmerkmal für sie zu entwickeln.
Was hat Brian Azzarello sich dabei gedacht, Wederhake?***
(*: Ich frage mich das natürlich nicht wirklich, denn er tut’s für Geld, wie wir spätestens seit diesem Jahr wissen – viel, viel Geld, vermutlich. Aber nehmen wir, um der Diskussion willen, trotzdem an, wir wüssten es nicht, und es gäbe Comics, die auch Brian Azzarello selbst für sehr, sehr viel Geld nicht schreiben würde.)
(**: Nein, hat er nicht. Siehe oben.)
(***: Man kann ja nichts ausschließen.)
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WEDERHAKE: Die Frage ist nicht, was sich Azzarello gedacht hat, Frisch, sondern was ich mir dachte, der Serie nach Heft 1 lockere 8 von 10 Punkten zu geben. Dafür kann ich aber die Frage beantworten, warum Wonder Womans Mama am Ende von Heft 3 so statuenhaft wirkt: Weil alle anderen Frauen um sie herum in Nattern verwandelt worden sind. Und hätte man Mutti auch in eine Natter verwandelt, dann wäre die dramatische Umarmung nicht ganz so stilecht. Oder man hatte Angst, dass der Leser glaubt, Wonder Woman sei unter die Snake Handler gegangen.
Ich empfand Wonder Woman als unglaublich mühsame Geschichte, weil zunehmend das Gefühl aufkam, dass Azzarello selbst nicht weiß, was er hier eigentlich will, so inkongruent wirkt das alles. Ich weiß um Azzarellos Vorliebe für Wortspiele und schätze sie oft auch, aber muss jede Figur in jedem Azzarello-Werk ein Wortspieler sein? Die ganze Zeit? Egal, wie dramatisch oder betroffenheitsheischend eine Szene gerade ist? Immerhin schafft er es so, ein doppeldeutiges „schwanzlos“ an der Zensur vorbeizuschmuggeln. Das war’s hoffentlich wert.
Und ohnehin, die Dialoge. Klar, da ist der Rückgriff auf antike Mythen, aber am Ende hing es mir zum Hals raus, dass gefühlte Dreiviertel der Texte sich lesen, als hätte er hier ein Stück von Shakespeare in Comicform gebracht. Nur ohne gereimte Couplets, die’s ertragbar machen würden. Und passend unpassend ist auch, dass Diana nach der Enthüllung in Heft 3 ihren Namen ablehnt und stattdessen beschließt, ab jetzt Wonder Woman zu heißen. Wunderweib. Was so ein doofer Comicname ist, an den wir uns gewöhnt haben, der aber im Rahmen einer epischen, griechischen Göttertragödie ungefähr so fehl am Platz wirkt wie das besagte Metal-Konzert.
Die Geschichte plätschert tatsächlich zuerst dahin, wobei belanglos mein Wort der Wahl wäre, kommt in Heft 3 zeitweise fast völlig zum Stillstand und verliert sich dann in den verbleibenden drei Heften in einem Handlungskonvolut, dem ich nicht mehr folgen konnte. Was im Detail auf den letzten paar Seiten in Heft 6 passiert ist, müsste ich in der Wikipedia nachlesen, wenn’s mich noch interessieren würde. Ich verstehe ja nicht einmal, was genau Wonder Woman überhaupt ausmacht. Wie bekannt ist sie? Was hat sie schon gemacht? Warum trägt sie das Kostüm? Wie lange ist sie schon in der Welt der Sterblichen? Wüsste ich das, verstünde ich vielleicht auch, wie relevant die Enthüllungen für sie sind. So stolpert sie sich irgendwie durch den ab Heft 4 sturzbachartig über uns hereinbrechenden Plot, ohne dass ich je ihre Motivation nachvollziehen kann. Und Zola, der menschliche Anker der Geschichte, begegnet dem Konzept der real existierenden griechischen Götter mit einer beeindruckenden (lies: völlig unglaubwürdigen) Gemütsruhe, wenn sie mal nicht nur doof im Hintergrund rumsteht.
Diese ganze Kiste mit den Göttern in der modernen Welt ist spürbar nicht Azzarellos Ding. Fiesere Menschen als ich würden jetzt den Vergleich mit Neil Gaimans Sandman bemühen. Fiesere Menschen als ich würden jetzt auch die Gender-Pandorabüchse öffnen, denn für eine Serie über starke Frauen ist das doch alles arg schwanzfixiert und männerdominiert. Einzelne Hefte passieren nicht einmal den Bechdel-Test, sondern scheitern an Punkt 3. Und das scheint eher schlimmer zu werden, zumindest hat sich DC ab Heft 7 oder 8 wohl schon wieder einen Sexismus-Shitstorm eingefangen. Gender, Götter … vielleicht sollte sich Azzarello einfach von Themen mit G fernhalten und Heinz Erhardt die Feder überlassen.
Was bleibt, sind die Zeichnungen von Cliff Chiang, die weiterhin gut gelayoutet und sehr schick sind. Seine Wonder Woman wirkt weiblich, aber stark, und seine Monster gefallen mir auch. Die haben wir (anders als die umwerfend schönen Titelbilder) immerhin für vier Hefte, ehe der von dir erwähnte Tony Akins als Fill-In-Künstler den Bleistift schwingt. Der stieß mir nicht ganz so sauer auf wie dir, die Farbgebung von Matt Wilson rettet da einiges, aber erinnerst du dich daran, dass DC am Anfang mal angekündigt hat, dass man das hier lange plante und ausreichend im Voraus produzieren ließ? Passend dazu ist das hier die zweite von zwei rezensierten Serien, die innerhalb der ersten sechs Hefte auf Füllkunst zurückgreifen muss.
As above, so below: Wie das ganze New-52-Projekt ist Wonder Woman ein konfuses Wirrwarr ohne klares Ziel. Kein furchtbarer Comic vielleicht, aber auch nicht weit davon entfernt.
Wonder Woman Volume 1: Blood
von Brian Azzarello, Cliff Chiang, Tony Akins, Dan Green, Matthew Wilson und Jared K. Fletcher
DC Comics, 2012
Hardcover, englisch, farbig, 120 Seiten, 22,99 USD
ISBN: 978-1-4012-3563-5
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WEDERHAKE: Reinhard Kleist schreibt und zeichnet für Carlsen die Lebensgeschichte eines Holocaust-Überlebenden als Graphic Novel. Ich hoffe, der Mann hat im Brotkorb noch genug Platz für einen weiteren Max-und-Moritz-Preis.
Basierend auf der von dessen Sohn verfassten Biographie, stellt Kleist das Leben von Hertzko Haft vor, einem polnischen Juden, der Auschwitz überlebte, indem er Boxkämpfe gegen andere Internierte gewann, auf deren Ausgang die Wachen wetteten, und der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in die USA emigrierte, sich dort als Preisboxer betätigte und sogar gegen den großen Rocky Marciano antrat.
Und jetzt, Frisch, finde ich es extrem schwer, diesen Comic zu bewerten. Ich fange mal in dem Bereich an, in dem es mir am leichtesten fällt: der grafischen Umsetzung dieser Geschichte. Kleists unruhige Linienführung, sein abstrakter Stil, der großflächige Einsatz von Schwarzflächen, das passt. Vielleicht besser als ein eher realistischer Stil, wie ihn zum Beispiel Isabel Kreitz mitgebracht hätte. Immerhin ist die Frage „Kann man Auschwitz im Comic darstellen?“ auch 26 Jahre nach Art Spiegelmans Maus zumindest in der breiteren Öffentlichkeit noch nicht geklärt. Kleists Stil lässt viel von dem Schrecken und den Grausamkeiten von Auschwitz im Dunkeln, beziehungsweise skizziert mit groben Strichen nur die Umrisse dessen, was der Leser selbst mit seinem Wissen füllt (mir fällt da besonders die Szene ein, in der Haft im Krematorium arbeiten und Leichen in die Öfen schieben muss). Meiner Ansicht nach umschifft Kleist damit die Gefahr der Trivialisierung, die ich bei einer realistischen Darstellung schon eher gegeben sehe, da dort eine „Wahrhaftigkeit“ mitschwingt, die ja auch nicht existiert.
In den Boxszenen selbst, von denen es so viele nicht gibt (einen Kampf etwa stellt Kleist nur dar, indem er das Gesicht von Hafts Trainer zeigt), schwankt die zeichnerische Qualität. Die meisten Panels haben eine Dynamik und Kraft, die ich in der Form seit Darwyn Cookes The New Frontier in keiner Boxszene mehr gesehen habe, aber vereinzelt wirken Panels auch zu statisch, zu posiert, zum Beispiel weil Kleist in diesen Panels auf Bewegungslinien verzichtet. In der Gesamtheit kommt Kleists Stil aber auch diesem Teil seiner Geschichte zugute.
Die Lebensgeschichte Hafts, die mir zuvor nie begegnete, empfand ich als sehr interessant, auch nach Hafts Exodus in die USA. Und eine grundlegende „Wichtigkeit“ hat so eine Geschichte automatisch, wenn sie einen weiteren Namen, ein weiteres Gesicht, ein weiteres Schicksal der Gefahr des Vergessens oder des Verschwimmens in der Menge der Holocaust-Opfer (ob lebendig oder tot) entreißt. Darum finde ich auch den Essay von Martin Krauß im Anhang sehr lesenswert, der unter anderem das Schicksal neun weiterer Boxer im Rahmen des Holocausts kontextualisiert. Und Kleist verfällt auch nicht in eine „Heroisierung“ Hafts. Haft ist kein „heldenhafter“ Überlebender, er ist ein Überlebender. Eine durch und durch menschliche Gestalt. Einer, der um zu überleben auch Dinge getan hat, die nicht glorreich sind. Die Frage, inwiefern er sich durch die Form seines Überlebens „schuldig“ gemacht hat, inwiefern er sich den Deutschen angedient hat, wirft Kleists Comic auf, verzichtet aber dankenswerter Weise auf eine wie auch immer geartete Antwort.
Allerdings leidet Der Boxer auch an den üblichen Problemen der Gattung Biographie, besonders da Haft seine Erfahrungen fast 60 Jahre verdrängte, nie Tagebuch geführt hat und sie erst 2003 seinem Sohn offenbarte. Und damit sind wir jetzt beim oben schon angeklungenen Schlagwort der „Wahrhaftigkeit“. Es bleiben die Fragen, inwiefern die Details stimmen, inwiefern der zeitliche Ablauf passt, inwiefern Selbst- und Fremdwahrnehmung die Geschichte beeinflussten und wie offen Haft seinem Sohn gegenüber wirklich war. Der Fairness halber sei gesagt, dass auch der abschließende Essay diese Fragen anreißt und zu dem Schluss kommt, dass es sich um eine „unglaubliche, aber doch glaubwürdige Biografie“ handelt. Dennoch erwähnt man hier, dass es Details gibt, die sich als „historisch falsch oder zumindest zweifelhaft“ erwiesen haben. Die Frage, die sich dann stellt, ist, ob man diese Details hätte zumindest erwähnen sollen, oder ob man dadurch die Glaubwürdigkeit und damit die Wirkung der restlichen Geschichte beschädigt hätte. Der SS-Mann, der Haft unter seine Fittiche nahm, heißt im Comic Schneider. Im Nachwort erfahren wir, dass sein Name nicht mehr bekannt ist. Keine große Sache, fast schon irrelevant, immerhin ist das hier keine historische Quelle und nicht hundertprozentiger Authentizität verpflichtet, aber es soll als Beispiel für meine generellen Probleme mit dem Genre der Biographie dienen.
Gleichermaßen stellt sich für mich auch die Frage, wo sich Kleist künstlerische Freiheiten genommen hat, um die Dramatik zu steigern. Im letzten Kampf gegen Rocky Marciano stellt Kleist immer wieder Bilder aus diesem Kampf (erkennbar an den Panelgrenzen) den Bildern aus Hafts KZ-Erfahrungen gegenüber (erkennbar am Fehlen von Panelgrenzen). Schon zu Beginn des Kampfes läuft Haft in die Arena ein, begleitet von den Gesichtern seiner Familie und der Menschen, die er im KZ kennenlernte. Da würde mich interessieren, ob Haft sich während des Kampfes tatsächlich so stark an seine KZ-Zeit zurückerinnerte, tatsächlich in den Mafiosi, die ihn angeblich bedrohten, eine Verbindung zu den SS-Leuten in Auschwitz sah, oder ob Kleist diese Juxtaposition aus stilistischen Gründen selbst hinzugefügt hat.
Der Boxer weist die inzwischen von Kleist bekannte hohe Qualität auf, ist sehr interessant und hat mich beim Lesen, gerade zum Ende hin, also deutlich nach dem Auschwitz-Part, immer wieder emotional berührt. Meine leichten Probleme bestehen somit nicht mit dem Werk, sondern eher mit dem Genre an sich. Aber immerhin lautet der Untertitel von Der Boxer „die wahre Geschichte des Hertzko Haft“. Und der Anspruch auf „Wahrheit“, in einem so subjektiven Feld wie der Biographie, hinterlässt bei mir leider einen schalen Nachgeschmack.
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FRISCH: Deine Bedenken bezüglich einer möglichen Trivialisierung solcher Themen teile ich überhaupt nicht. Ich denke, der Comic muss mittlerweile dank Spiegelman, Satrapi, Sacco und Co. längst nicht mehr beweisen, dass er derartigen Stoffen gewachsen ist, auch unabhängig davon, ob der Stil nun abstrakt oder eher konkret ausfällt. Dass der Holocaust kein Thema wie jedes andere ist, versteht sich von selbst, aber davon sind Comics ja nicht mehr betroffen als andere Medien. Da habe ich bei Guido Knopp wesentlich größere Vorbehalte als bei Reinhard Kleist, was die Präsentation angeht. Es kommt halt auf den individuellen Umgang mit der Materie an.
Den Anspruch der „Wahrheit“ oder „Wahrhaftigkeit“, den du erhebst, unterstütze ich hingegen. Ich würde ihn aber nicht daran festmachen, ob alles, was Kleist darstellt, bis ins kleinste Detail genau so vorgefallen ist. Eine neutrale Wahrheit gibt es bei subjektiven Berichten ja eben nicht, wie du auch andeutest, und das macht den Umgang mit solchen Erzählungen grundsätzlich komplex. Kein Leben lässt sich vollkommen objektiv und wahrheitsgetreu rekonstruieren – schon gar nicht von denen, die es gelebt haben, oder die ihnen nahestehen. In der Literaturwissenschaft trennt man darum klar zwischen Autoren und „Figuren“ solcher biographischen und autobiographischen Texte, auch wenn der Autor und sein erzählerisches Alter Ego viele Gemeinsamkeiten haben.
Bei Der Boxer gilt das erst recht, denn das Buch erhebt keinen journalistischen oder wissenschaftlichen Anspruch, sondern ist wohl eher als Adaption zu verstehen – als Reinhard Kleists künstlerische Interpretation eines Buchs, das im Wesentlichen aus dem Bericht eines Mannes zu bestehen scheint, der von dessen Sohn aufgeschrieben wurde. Der wörtliche „Wahrheitsgehalt“ des Comics ließe sich also allenfalls daran überprüfen, wie treu Kleist in seinen Bildern und Texten der Vorlage des Sohnes, Alan Scott Hafts, bleibt; und selbst dann wüssten wir immer noch nicht, wie genau Alan Scott Hafts Textvorlage sich an den Bericht Hertzko Hafts hält, und so weiter. Mehr noch: Kleist zeichnet die Geschichte ja, und auch, wenn seine Zeichnungen noch so realistisch wären, so blieben sie doch Zeichnungen, und somit keine Reproduktion der Realität.
Wir stoßen damit an Definitionsgrenzen, die etwa auch aus dem Dokumentarfilm bekannt sind. Selbst der Realfilm eines Ereignisses kann nicht den Anspruch erheben, vollkommen objektiv zu sein, denn es ist ja immer jemand da, der den Blickwinkel bestimmt. Man kann die Realität gar nicht reproduzieren, sondern, wie der britische Dokumentarfilm-Pionier John Grierson es in den 1930ern formulierte, allenfalls ein „creative treatment of actuality“ erstellen – eine kreative Interpretation der Wirklichkeit. Das gilt natürlich umso mehr für visuelle Darstellungen, die sich nicht der Fotografie oder des Realfilms bedienen, sondern komplett von Künstlerhand geschaffen werden.
(Bei Interesse verweise ich auf meine englische Besprechung des Zeichentrick-Dokumentarfilms Waltz with Bashir von Ari Folman und David Polonsky, die in vielerlei Hinsicht auch eine Abhandlung über genau diese Problematik ist.)
Der Boxer ist also ein frei gezeichneter Comic, der auf einer Biographie basiert, die wiederum auf dem Bericht eines Mannes basiert, der auf dessen Erinnerung basiert, die schließlich auf seinem Leben basiert. Oder nochmal vereinfacht: Der Boxer bewegt sich in seinem konkreten Wahrheitsanspruch irgendwo zwischen einer strikt an die Vorlage gebundenen Nacherzählung und einem lose an der Vorlage orientierten Dokudrama. Insofern wäre es schon interessant gewesen, zu erfahren, welche Freiheiten sich Kleist bei der Umsetzung genommen hat.
Aber wir wissen das eben nicht. Und selbst wenn, wüssten wir immer noch nicht, wie eng sich Alan Scott Hafts Aufzeichnungen an den Bericht seines Vaters halten, Hertzko Hafts Bericht an seine Erinnerung, oder seine Erinnerung an das tatsächlich Geschehene.
(Besonders irreführend in dieser Hinsicht übrigens auch wieder der „Graphic Novel“-Stempel. Als unbedarfter Leser könnte man ihn als Hinweis verstehen, dass der Verlag das Buch als einen auf „wahren Begebenheiten“ basierenden „grafischen Roman“ sieht. Aber natürlich soll es kein solcher Hinweis sein. Es ist einfach nur ein Stempel für einen dicken Comic mit irgendeinem seriösen Inhalt, wie üblich.)
Darum – und das ist meiner langen Rede kurzer Sinn – denke ich, dass der Anspruch einer „wahren Geschichte“, wie sie der Untertitel verspricht, sich hier allein daran messen lassen wird, ob es Kleist in seiner Funktion als Erzähler gelingt, uns die Geschichte – und insbesondere die Figur des Hertzko selbst – auf intellektueller wie auf emotionaler Ebene als „wahr“ zu vermitteln: Sind die Figuren, ihr Handeln und die Welt, in der sie sich bewegen, plausibel und glaubwürdig? Berührt mich ihre Geschichte?
Seine Qualität und Virtuosität als visueller Erzähler muss Kleist nicht mehr beweisen. Ich mag seinen unprätentiösen, kontrollierten, von messerscharfer Effizienz geprägten Stil sehr. Er gehört längst zur internationalen Spitzenklasse, und das sieht man auch hier.
Auch, was den intellektuellen Part angeht, funktioniert die Story. Wir wissen, auch dank des einordnenden Nachworts von Martin Krauß, dass es viele Menschen gegeben hat, deren Lebensgeschichte ähnlich der des Hertzko Haft verlaufen ist. Das macht den Comic wahr genug, was das anbelangt, unabhängig davon, ob der echte Hertzko Haft in jedem Moment alles hundertprozentig so erlebt hat, wie Kleist es hier zeigt. Niemand, der sich annähernd mit dem Holocaust auseinandergesetzt hat, wird auf die Idee kommen, die dargestellten Situationen oder Handlungen prinzipiell für unrealistisch oder erfunden zu halten. Auf der Ebene der Figuren erscheinen die Entscheidungen, die getroffen werden, im gegebenen Kontext jederzeit plausibel und nachvollziehbar.
Schon allein deswegen kann einen der Comic nicht kalt lassen.
Nun hast Du aber Maus bereits angesprochen, und man kommt bei dieser Art von Geschichte kaum an einem Vergleich vorbei – nicht nur, weil die Dramaturgie von Der Boxer der von Maus sehr ähnlich ist. Spiegelman ist eben die Referenz, was Holocaust-Erzählungen und Biographien im Comic – oder „ernsthafte Comics“ im allgemeinen – angeht, und er wird es wohl auch noch lange bleiben.
Dieser Vergleich mit Maus jedenfalls offenbart für mich die große Schwäche von Der Boxer, den Grund, warum mich das Buch nur selten mitgerissen hat. Ganz banal gesagt: Ich habe keine Ahnung, was Reinhard Kleist mit dieser Geschichte zu tun hat.
Es ist schon richtig, was du sagst: Jeder seriöse Versuch, ein weiteres Einzelschicksal aus dieser unfassbaren Statistik Millionen ermordeter und gequälter Menschen zu lösen und als Mahnung wider das Vergessen zugänglich zu machen, ist wichtig und unterstützenswert. Insofern hat Der Boxer eine inhärente Daseinsberechtigung, die das Buch – völlig jenseits aller erzählerischen Qualität – zu einem moralisch und kulturell wertvollen Beitrag macht.
Doch davon abgesehen vermisse ich auf seinen Seiten die Präsenz des Autors.
Maus ist ja vor allem deshalb so faszinierend, weil es auch die Geschichte eines Vaters und eines Sohnes ist. Spiegelman geht hart und schonungslos ins Gericht mit seinem Vater und mit sich selbst, und es besteht in keinem Moment ein Zweifel, dass das auch seine eigene Geschichte ist, die er da erzählt – die er erzählen muss, nicht nur, weil das Leben Vladek Spiegelmans schon für sich genommen danach schreit, erzählt zu werden, sondern weil es Art Spiegelmans eigenes tiefes Bedürfnis ist, sich darauf einen Reim zu machen, was – auch nach dem Holocaust – mit seiner Familie geschehen ist, und wie es dazu kommen konnte. Diese Intensität spürt man auf jeder Seite des Buchs, und sie ist es auch, die den Kunstgriff der anthropomorphen Figuren nicht nur verständlich, sondern geradezu notwendig macht. Spiegelman zeigt und erklärt seinem Publikum nicht einfach, was geschehen ist; er macht seinen Lesern das Geschehene auch auf beklemmende Weise emotional begreifbar.
Diese Intensität fehlt mir bei Kleist über weite Strecken. Ich habe bei ihm das Gefühl, dass er mit großer Akribie und in ehrenwerter Absicht eine Geschichte nacherzählt, die nicht seine ist. Das macht er gut, und es ist eine Geschichte, die nicht oft genug erzählt werden kann. Aber mir ist nicht klar, warum er als Autor entschieden hat, gerade diese Geschichte zu erzählen. Es gibt diese Geschichte ja schon in Prosaform, aufgeschrieben von einem Sohn über seinen Vater. Man stelle sich im Umkehrschluss vor, ein deutscher Autor würde Maus in Prosaform adaptieren wollen. Die Frage müsste doch lauten: Welchen Blickwinkel hat diese spezielle künstlerische Interpretation zu bieten, der sie für den Autor interessant macht?
Hin und wieder bekommt man bei Kleist eine Ahnung davon – bei den von dir erwähnten Boxkämpfen oder den Szenen bei den Öfen etwa, oder wenn Hertzko bei Kriegsende auf der Flucht ist. In diesen Momenten wird Der Boxer packend, weil man spürt, dass es Kleist selbst ist, der da ringt mit diesem Grauen und den menschlichen Abgründen dahinter, der aus Sprachlosigkeit weitgehend auf Texte verzichtet, und der sich und seinen Zeichnungen den nötigen Raum für sein Ringen gewährt. Der Eindringlichkeit dieser Szenen, in denen Kleist die Geschichte, die er erzählt, allein durch den Akt des Erzählens zu seiner eigenen macht, entkommt man nicht.
Umso mehr fällt das Fehlen dieser Eindringlichkeit im Rest des Buches auf. Man hat dort eher den Eindruck, dass ein Bericht aus zweiter oder dritter Hand übermittelt wird – in einem angemessenen Tonfall zwar und mit sorgsam gewählten Worten, aber doch eben auch ohne zwingenden eigenen Anteil. Man nimmt diese Geschichte mit Bestürzung zur Kenntnis, aber man erfährt sie über weite Strecken eben nicht so, wie es einem Art Spiegelman in Maus ermöglicht hat. Es scheint, als sei Kleist so sehr um Zurückhaltung und um seine Neutralität als Erzähler bemüht, dass er der Geschichte – seiner Geschichte – damit ein entscheidendes Stück Identität und Dringlichkeit verwehrt.
Der Boxer ist ein lesenswerter, mehr als kompetenter Comic. Aber den Beleg dafür, dass das Leben des jüdischen Boxers Hertzko Haft von Reinhard Kleist noch einmal als Comic erzählt werden musste, bleibt der Autor in letzter Konsequenz leider schuldig.
Der Boxer.
Die wahre Geschichte des Hertzko Haft
von Reinhard Kleist
Lettering von Minou Zaribaf und Olav Korth
Carlsen Verlag, 2012
Hardcover, schwarzweiß, 190 Seiten, 16,90 Euro
ISBN: 978-3-551-78697-5
Abbildungen: © DC Comics und Carlsen Verlag
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