Unter dem deutschen Titel Am Rande des Himmels erschien dieses Werk schon einmal, 1996 beim Carlsen Verlag. 15 Jahre später hat sich die Comiclandschaft stark verändert – ein Comic, der teilweise autobiografisch auf über 200 Seiten von Rassismus und Homosexualität, Politik und Gesellschaft erzählt, muss längst nicht mehr als exotische Besonderheit gelten, sondern passt formal und inhaltlich hervorragend in die mittlerweile etablierte Marktnische der „Graphic Novels“. Grund genug für den Verlag Cross Cult, eine Neuauflage des vergriffenen Comics zu machen, diesmal unter dem englischen Originaltitel.
Dieser führt ein wenig in die Irre – zwar gibt es in Howard Cruses Comic tatsächlich ein Baby, dessen Empfängnis mit einem eingetrockneten Kondom („stuck rubber“) zu tun hat, dies spielt aber nur eine Nebenrolle. Im Zentrum steht die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den US-Südstaaten der Sechziger Jahre, angeführt von Martin Luther King. Der jedoch tritt an keiner Stelle persönlich auf, denn Cruse hat sich dafür entschieden, eine fiktionale Geschichte zu erzählen, mit erfundenen Figuren und Schauplätzen, die sich aber sehr nah an die tatsächlichen Ereignisse anlehnt.
Gleich auf der ersten Seite wendet sich ein Ich-Erzähler direkt an den Leser: Toland Polk erzählt in Rückblicken aus seinem Leben, vor allem von den Jahren, als er Anfang 20 war. Auch Polk ist eine fiktive Figur, aber wie die anderen basiert auch auch er auf einer eine realen Person, nämlich dem Autor und Zeichner selbst. Man könnte Stuck Rubber Baby also als semi-autobiografischen Comic bezeichnen. Howard Cruses Alter Ego erzählt von seinen jungen Jahren in einer Kleinstadt im Bundesstaat Alabama, wo zu Beginn der Sechziger Jahre noch Rassentrennung herrscht, der Ku Klux Klan die schwarze Bevölkerung terrorisiert und die Schwarzen allgemein als Bürger zweiter Klasse behandelt werden. In Clayfield, dem Heimatort von Ich-Erzähler Toland, formiert sich Widerstand der Schwarzen, die gewaltlos protestieren, Geschäfte boykottieren und regelmäßige Versammlungen abhalten.
Toland hat mit all dem eigentlich nicht viel zu tun, er gehört zur privilegierten Rasse der Weißen. Er kämpft vor allem mit sich selbst und seinen homosexuellen Neigungen und ist sich unsicher, ob er diese verdrängen oder akzeptieren soll. Über seine Mitbewohner lernt Toland junge, liberale Weiße kennen, die die Bürgerrechtler unterstützen und sich regelmäßig mit ihnen treffen. Unter ihnen sind der draufgängerische, schwule Sammy und die politisch engagierte Sängerin Ginger, die beide wichtige Bezugspersonen für Toland werden. Mit Ginger entwickelt sich eine enge Freundschaft, und Toland hofft, dass daraus mehr werden könnte. Vielleicht ist er ja doch nicht schwul, könnte Ginger heiraten und würde in der konservativen Südstaatengesellschaft nicht als Außenseiter auffallen.
Mit Ginger als Bezugspunkt gerät Toland so unversehens mitten in den Kampf der Schwarzen um ihre Bürgerrechte. Obwohl er unpolitisch und alles andere als ein Draufgänger ist, nimmt er an Kundgebungen und Protestmärschen teil, besucht schwarze Clubs und lernt Pfarrer Harland Pepper kennen, die Führungsfigur des schwarzen Widerstands. Als teilnehmender Beobachter, der immer nahe dran ist, aber stets eine sehr passive Rolle einnimmt, erlebt er Höhen und Tiefen der Bürgerrechtsbewegung mit.
Die Figur des Toland Polk wirkt dabei zutiefst glaubwürdig. Er ist eben kein edler Freiheitskämpfer mit hohen Idealen, sondern ein sehr normaler Mitläufer. Er schließt sich der Bewegung an, aber nicht aus purer Überzeugung, sondern weil es gerade zu seiner Situation passt. Seine persönlichen Sorgen und Nöte sind im Zweifel immer wichtiger als die große Politik. Ein Typ, wie es sie vermutlich in allen größeren Protestbewegungen gibt und damit eine ideale Identifikationsfigur für den Leser. Auch der Kunstgriff, reale Personen zu fiktionalisieren, wirkt sich positiv aus: Würde Martin Luther King als Martin Luther King auftreten, würde man ihn automatisch als die große Ikone wahrnehmen, die jedes Kind als Friedensnobelpreisträger und Märtyrer der Bewegung kennt. So aber ist Reverend Pepper zunächst wirklich nur ein charismatischer, unscheinbarer Pfarrer.
Während Autor und Zeichner Cruse hierzulande kaum bekannt ist, hatte er sich in den USA zumindest in der homosexuellen Subkultur bereits vor Stuck Rubber Baby einen Namen als Comiczeichner gemacht. Sein komödiantischer Strip Wendel lief von 1983 bis 1989 im schwul-lesbischen Magazin The Advocate. Für seinen Comicroman (hier passt der Ausdruck tatsächlich mal sehr gut!), an dem er fünf Jahre lang arbeitete, änderte er seinen Zeichenstil: kam Wendel noch sehr cartoonig daher, legt Stuck Rubber Baby sehr viel mehr Wert auf Realismus, ohne dabei Cruses zeichnerische Wurzeln, die Underground-Comix von Robert Crumb und Co., zu verleugnen. Auffälligstes Stilmittel sind die überaus filigranen Schraffuren: Mit klitzekleinen, feinen Linien und Pünktchen bringt er eine erstaunliche dreidimensionale Tiefe in seine Schwarz-Weiß-Zeichnungen.
Auf den ersten Seiten wirken die mit Details vollgestopften Panels und die große Menge an Text und Sprechblasen noch ungewohnt und irritierend. Aber Cruse versteht sein Handwerk als Erzähler, so dass man sehr schnell in den Flow der Erzählung gerät. Er führt den Leser elegant durch seine Geschichte, die sowohl lockere und fröhliche Momente als auch sehr tragische, finstere Szenen enthält. Und mit seinen sehr lebensnahen, klischeefreien Figuren umschifft er auch die Gefahren, die entstehen, wenn Probleme von Minderheiten aus der Sicht von Personen geschildert werden, die dieser Minderheit gar nicht angehören (ein Vorwurf, der zuletzt dem Film The Help gemacht wurde).
Stuck Rubber Baby verknüpft erstaunlich unangestrengt die Themen Rassismus und Homophobie. Dem Comic gelingt es, ein wichtiges historisches Thema auf eine sehr persönliche Ebene zu bringen, fühlt sich niemals nach Geschichts- oder Gemeinschaftskundeunterricht an, sondern funktioniert als spannendes und auf seine Art auch unterhaltsames Drama. Und vermittelt nebenbei die zeitlos aktuelle Botschaft, dass jede Veränderung der der Gesellschaft beim Einzelnen anfangen muss.
Die Neuausgabe enthält, wie bei Cross Cult üblich, ergänzendes Material: Neben einem Vorwort von Alison Bechdel gibt es ein kleines Making-Of, ein interessantes Glossar und einen Artikel von Übersetzer Andreas C. Knigge, der aus dem Nähkästchen plaudert und nicht ohne Stolz erzählt, wie er als Programmmacher des Carlsen-Verlags 1995 den Comic entdeckt und die erste deutsche Ausgabe herausgebracht hat.
Wertung:
Starkes Paradebeispiel für einen anspruchsvollen Comicroman
Stuck Rubber Baby
Cross Cult, Oktober 2011
Text und Zeichnungen: Howard Cruse
240 Seiten, schwarz-weiß Hardcover
Preis: 26 Euro
ISBN: 978-3942649-28-5
Leseprobe
Abbildungen: © der dt. Ausgabe: Cross Cult
Unter dem deutschen Titel Am Rande des Himmels erschien dieses Werk schon einmal, 1996 beim Carlsen Verlag. 15 Jahre später hat sich die Comiclandschaft stark verändert — ein Comic, der teilweise autobiografisch auf über 200 Seiten von Rassismus und Homosexualität, Politik und Gesellschaft erzählt, muss längst nicht mehr als exotische Besonderheit gelten, sondern passt formal und inhaltlich hervorragend in die mittlerweile etablierte Marktnische der „Graphic Novels“. Grund genug für den Verlag Cross Cult, eine Neuauflage des vergriffenen Comics zu machen, diesmal unter dem englischen Originaltitel.
Dieser führt ein wenig in die Irre — zwar gibt es in Howard Cruses Comic tatsächlich ein Baby, dessen Empfängnis mit einem eingetrockneten Kondom („stuck rubber“) zu tun hat, dies spielt aber nur eine Nebenrolle. Im Zentrum steht die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den US-Südstaaten der Sechziger Jahre, angeführt von Martin Luther King. Der jedoch tritt an keiner Stelle persönlich auf, denn Cruse hat sich dafür entschieden, eine fiktionale Geschichte zu erzählen, mit erfundenen Figuren und Schauplätzen, die sich aber sehr nah an die tatsächlichen Ereignisse anlehnt.
Gleich auf der ersten Seite wendet sich ein Ich-Erzähler direkt an den Leser: Toland Polk erzählt in Rückblicken aus seinem Leben, vor allem von den Jahren, als er Anfang 20 war. Auch Polk ist eine fiktive Figur, aber wie die anderen basiert auch auch er auf einer eine realen Person, nämlich dem Autor und Zeichner selbst. Man könnte Stuck Rubber Baby also als semi-autobiografischen Comic bezeichnen. Howard Cruses Alter Ego erzählt von seinen jungen Jahren in einer Kleinstadt im Bundesstaat Alabama, wo zu Beginn der Sechziger Jahre noch Rassentrennung herrscht, der Ku Klux Klan die schwarze Bevölkerung terrorisiert und die Schwarzen allgemein als Bürger zweiter Klasse behandelt werden. In Clayfield, dem Heimatort von Ich-Erzähler Toland, formiert sich Widerstand der Schwarzen, die gewaltlos protestieren, Geschäfte boykottieren und regelmäßige Versammlungen abhalten.
Toland hat mit all dem nicht viel zu tun, er gehört zur privilegierten Rasse der Weißen. Er kämpft vor allem mit sich selbst und seinen homosexuellen Neigungen und ist sich unsicher, ob er diese verdrängen oder akzeptieren soll. Über seine Mitbewohner lernt Toland junge, liberale Weiße kennen, die die Bürgerrechtler unterstützen und sich regelmäßig mit ihnen treffen. Unter ihnen sind der draufgängerische, schwule Sammy und die politisch engagierte Sängerin Ginger, die beide wichtige Bezugspersonen für Toland werden. Mit Ginger entwickelt sich eine enge Freundschaft, und Toland hofft, dass daraus mehr werden könnte. Vielleicht ist er ja doch nicht schwul, könnte Ginger heiraten und würde in der konservativen Südstaatengesellschaft nicht als Außenseiter auffallen.
Mit Ginger als Bezugspunkt gerät Toland so unversehens mitten in den Kampf der Schwarzen um ihre Bürgerrechte. Obwohl er unpolitisch und alles andere als ein Draufgänger ist, nimmt er an Kundgebungen und Protestmärschen teil, besucht schwarze Clubs und lernt Pfarrer Harland Pepper kennen, die Führungsfigur des schwarzen Widerstands. Als teilnehmender Beobachter, der immer nahe dran ist, aber stets eine sehr passive Rolle einnimmt, erlebt er Höhen und Tiefen der Bürgerrechtsbewegung mit.
Die Figur des Toland Polk wirkt dabei zutiefst glaubwürdig. Er ist eben kein edler Freiheitskämpfer mit hohen Idealen, sondern ein sehr normaler Mitläufer. Er schließt sich der Bewegung an, aber nicht aus purer Überzeugung, sondern weil es gerade zu seiner persönlichen Situation passt. Seine persönlichen Sorgen und Nöte sind im Zweifel immer wichtiger als die große Politik. Ein Typ, wie es sie vermutlich in allen größeren Protestbewegungen gibt und damit eine ideale Identifikationsfigur für den Leser. Auch der Kunstgriff, reale Personen zu fiktionalisieren, wirkt sich positiv aus: Würde Martin Luther King als Martin Luther King auftreten, würde man ihn automatisch als die große Ikone wahrnehmen, die jedes Kind als Friedensnobelpreisträger und Märtyrer der Bewegung kennt. So aber ist Reverend Pepper zunächst wirklich nur ein charismatischer, unscheinbarer Pfarrer.
Während Autor und Zeichner Cruse hierzulande kaum bekannt ist, hatte er sich in den USA zumindest in der homosexuellen Subkultur bereits vor Stuck Rubber Baby einen Namen als Comiczeichner gemacht. Sein komödiantischer Strip Wendel lief von 1983 bis 1989 im schwul-lesbischen Magazin The Advocate. Für seinen Comicroman (hier passt der Ausdruck tatsächlich mal sehr gut!), an dem er fünf Jahre lang arbeitete, änderte er seinen Zeichenstil: kam Wendel noch sehr cartoonig daher, legt Stuck Rubber Baby sehr viel mehr Wert auf Realismus, ohne dabei Cruses zeichnerische Wurzeln, die Underground-Comix von Robert Crumb und Co., zu verleugnen. Auffälligstes Stilmittel sind die überaus filigranen Schraffuren: Mit klitzekleinen, feinen Linien und Pünktchen bringt er eine erstaunliche dreidimensionale Tiefe in seine Schwarz-Weiß-Zeichnungen.
Auf den ersten Seiten wirken die mit Details vollgestopften Panels und die große Menge an Text und Sprechblasen noch ungewohnt und irritierend. Aber Cruse versteht sein Handwerk als Erzähler, so dass man sehr schnell in den Flow der Erzählung gerät. Er führt den Leser elegant durch seine Geschichte, die sowohl lockere und fröhliche Momente als auch sehr tragische, finstere Szenen enthält. Und mit seinen sehr lebensnahen, klischeefreien Figuren umschifft er auch die Gefahren, die entstehen, wenn Probleme von Minderheiten aus der Sicht von Personen geschildert werden, die dieser Minderheit gar nicht angehören (ein Vorwurf, der zuletzt dem Film The Help gemacht wurde).
Stuck Rubber Baby gelingt es, ein wichtiges historisches Thema auf eine sehr persönliche Ebene zu bringen, fühlt sich niemals nach Geschichts- oder Gemeinschaftskundeunterricht an, sondern funktioniert als spannendes und auf seine Art auch unterhaltsames Drama. Und vermittelt nebenbei die zeitlos aktuelle Botschaft, dass jede Veränderung der der Gesellschaft beim Einzelnen anfangen muss.
Die Neuausgabe enthält, wie bei Cross Cult üblich, ergänzendes Material: Neben einem Vorwort von Alison Bechdel gibt es ein kleines Making-Of, ein interessantes Glossar und einen Artikel von Übersetzer Andreas C. Knigge, der aus dem Nähkästchen plaudert und nicht ohne Stolz erzählt, wie er als Programmmacher des Carlsen-Verlags 1995 den Comic entdeckt und die erste deutsche Ausgabe herausgebracht hat.
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