Rezensionen

Rotkäppchen

 Dass man in alten Märchen und Sagen, zum Beispiel in den von den Gebrüdern Grimm überlieferten, jede Menge sexuelle Untertöne entdecken kann, ist keine ganz neue Erkenntnis. Ob diese nun bewusst oder unbewusst dort hineingelangten, man kann sie zweifellos finden. Wer heute die Grimm'schen Texte liest, braucht nicht besonders viel Fantasie, um sie als Sex-and-Crime-Geschichten zu interpretieren. Diesen Ansatz verfolgt Mart Klein in seiner Comic-Version von Rotkäppchen konsequent. Das Ergebnis ist eine mehr oder weniger pornographische Exploitation-Story.

Mart Klein, Illustrator aus Mainz, der diesen Comic als Diplomarbeit an der dortigen FH schuf, hält sich streng an den Originaltext der Brüder Grimm. Und der beginnt schon im allerersten Satz mit der Vorstellung von Rotkäppchen als „kleine, süße Dirne“. Nun war „Dirne“ in früheren Zeiten zwar ein ganz normales Wort für Mädchen oder Jungfrau, heute versteht man jedoch meistens etwas anderes darunter. Das tut auch Mart Klein – sein Rotkäppchen ist eine Prostituierte, und genau diese Linie wird weiterverfolgt. Und das auf nicht besonders subtile Weise: die Großmutter ist dann eben die Chefin eines Bordells, der Wein ist selbstgebrannter Schnaps, der Kuchen wird mit Haschisch gebacken. Hauptsache hart und nicht jugendfrei. Wenn Rotkäppchen dann dem Wolf begegnet, der sie fragt „Was trägst du unter der Schürze?“ kann man sich schon vorstellen, wie der Hase läuft. Der Hinweis „Empfohlen ab 18“ prangt jedenfalls nicht umsonst auf dem Cover, denn der Comic bebildert die Grimm'schen Worte so explizit wie möglich.

Besonders geschmackvoll ist Kleins Hardcore-Märchen nicht geraten. Die Posen und Outfits seiner weiblichen Protagonisten folgen gängiger Porno-Ästhetik, Rotkäppchens Charakter bleibt oberflächlich und konturlos. Das Bemühen, eine derbe und heftige Geschichte zu erzählen, nutzt sich sehr schnell ab, und bis auf zwei, drei kleine Gags am Rande gibt es kaum Humor in der Geschichte. Dabei würde ihr eine ironische Brechung, ein Augenzwinkern sehr gut tun (was zum Beispiel in der Grimm-Serie beim Zwerchfell-Verlag, wo im Jahr 2000 ebenfalls eine Rotkäppchen-Version „für Erwachsene“ erschien, hervorragend funktioniert).

 Zeichnerisch ist das durchaus professionell und eigenständig: die schwarz-weißen, realistischen Zeichnungen arbeiten sehr viel mit Schraffuren und geben dem Comic die passende dreckige Atmosphäre. Dazu passt auch das betont skizzenhafte handschriftliche Lettering und die groben, kritzeligen Rahmen um Panels und Sprechblasen. Die Schmuckfarbe Rot setzt Akzente und kommt natürlich gegen Ende der Geschichte besonders zum Einsatz, wenn es blutig zur Sache geht. Was Seitenlayout und Storytelling angeht, wird viel experimentiert. Klein hat einige gute Ideen und bemüht sich, fast jede Seite anders aufzubauen als die vorhergehende, dabei bleibt allerdings eine einheitliche Linie und ein klarer Erzählfluss auf der Strecke.

Aufgemacht ist diese erste Veröffentlichung des Unfug Verlags sehr hochwertig als Album mit Hardcover-Einband und gutem Papier. Der 21-seitige Comic wird ergänzt durch eine kleine Pinup-Galerie, Skizzen und ein Nachwort, in dem Mart Klein beweist, dass er sich durchaus intensiv mit dem Rotkäppchen-Mythos und seinen verschiedenen Varianten beschäftigt hat. Insgesamt ist Rotkäppchen ein durchaus ambitioniertes Werk, dem man ansieht, wieviel Eifer und Energie hineingeflossen sind. Nur leider kommt Klein erzählerisch nicht über eine derbe Jungs-Fantasie hinaus. Vielleicht ändert sich das ja in der Fortsetzung – der Unfug Verlag plant bereits eine Adaption von Schneeweißchen und Rosenrot.

Rotkäppchen
Unfug Verlag
, Juni 2009
Text: Gebrüder Grimm
Zeichnungen: Mart Klein
Hardcover; 28 Seiten; schwarz-weiß + rot; 19,80 Euro
ISBN: 3-9812872-0-2

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Abbildungen: © Mart Klein