Das französische Duo Conrad und Wilbur legt mit dem Album „Ein orientalischer Gentleman“ die Fortsetzung und den Abschluss der Story aus dem ersten Band von Raj, „Die Verschwundenen der Goldenen Stadt“ vor (den man übrigens dringend gelesen haben sollte, wenn man diesen zweiten Band verstehen möchte).
Alexander Martin, ein junger Agent der britischen Kolonialverwaltung in Bombay, gelangt mit seinem Partner Longfellow und der eigenwilligen Inderin Ayesha auf die Elephanteninsel, um Longfellows Onkel vor einem geheimnisvollen Mörder und Kidnapper zu retten, der bereits mehrere hochrangige Kolonialbeamte entführt und ermordet hat. Auf der Insel finden sie jemanden, der ihnen näheres über die jüngsten Geschehnisse mitteilen kann. Nachdem ihnen klar wurde, wer hinter den letzten Verbrechen steckt, beginnt ein Wettlauf mit der Zeit und um das Leben von Longfellows Onkel.
Zeichnerisch ist Raj ganz im Stil der „Ligne Claire“ gehalten, deren kennzeichnende Merkmale präzise Konturen und flächige einfarbige Kolorierungen sind. Deren bekanntester Vertreter ist natürlich Hergé (Tim und Struppi). Die Kolorierung ist hier sehr gelungen, weiß aber nicht sonderlich aufzufallen. Auch stehen die Zeichnungen voll und ganz im Dienste der Story und vermeiden Auffälligkeiten, die von der Geschichte ablenken könnten.
Leider weiß man nicht so recht, an welche Zielgruppe sich dieser Comic eigentlich richtet. Die schlicht gehaltenen Zeichnungen und manche Slapstickeinlagen dürfte auch ein junges Publikum ziemlich ansprechen. Dem entgegen stehen aber die komplizierte Story und die mangelnde Action. Der manchmal auftrumpfende Wortwitz ist ebenfalls eher für ein älteres Publikum geeignet. Vor allem die erste Hälfte dieses Bandes ist sehr lahm und besteht überwiegend aus Dialogen. Und die sind dem Medium in diesem Falle leider abträglich. Die Deduktion dreier Personen, und die darauffolgende Erkenntnis wer der Verbrecher ist, funktioniert in einem Roman hervorragend. Man kann diese Szenen durchaus als Hommage und als eine zeitliche Einordnung begreifen, da vor allem in den englischen Kriminalromanen jener Zeit, etwa bei Agatha Christie, so verfahren wurde. Aber ein Comic muss dafür geeignete Bilder finden, und das gelingt hier leider nicht.
Einige Rückblenden lockern das Ganze zwar auf, wirken aber gleichzeitig ein bisschen hilflos. Als hätten die Autoren erkannt, dass sie Abwechslung bieten müssen, und nun krampfhaft Einsprengsel einbauen. Durch den völligen Verzicht auf Action in dieser Phase der Erzählung gerät die Auflösung recht unbefriedigend. Vor allem, weil man das Gefühl hat, dass die Protagonisten schon eher darauf hätten kommen können, wenn sie sich nur die Zeit zum Nachdenken genommen hätten. Die zweite Hälfte des Comics ist dann aber sehr viel actionreicher und bietet auch einiges an Schauwerten. Generell ist die Identität des Mörders, die hier nicht verraten werden soll, eine kaum verschleierte Parabel auf den Kolonialismus an sich. Durch den Imperialismus wurden Identitäten zerstört, die sich mühsam und oftmals mit Gewalt wieder zusammenfügen mussten. Und das betrifft nicht nur Staaten. Lobenswert an der Serie Raj ist die gelungene Schilderung des kolonialen Lebens in Bombay, ohne jemals einer gewissen „Kolonialromantik“ zum Opfer zu fallen.
Wertung:
Sehr behäbig, mit viel Dialog und einer enttäuschenden Auflösung des komplizierten Falles.
Raj 2 – Ein orientalischer Gentleman
Carlsen Comics, November 2010
Text: Wilbur / Didier Conrad
Zeichnungen: Didier Conrad
48 Seiten, farbig, Softcover
Preis: 12, 00 Euro
ISBN: 978-3-551-78202-1