Rezensionen

Lulu – Die nackte Frau

Cover Lulu – Die nackte FrauAuch wenn der Titel des neuen Splitter Books Lulu – Die nackte Frau den Anschein erwecken mag: Mit Erotik oder gar Pornographie hat der Band rein gar nichts zu tun. Vielmehr bezieht sich das „nackte“ im Titel auf das Lösen von allen Verstrickungen und Verpflichtungen. Das Loslassen, alles einfach mal sein lassen: Das hat sich wohl jeder einmal erträumt. Und genau dies ist das zentrale Thema dieses leisen und poetischen Bandes.

Nach einem unerfreulich verlaufenden Vorstellungsgespräch hat Lulu keine Lust nach Hause zu fahren. Schließlich hat ihr das Gespräch deutlich gemacht, dass sie nicht mehr die Jüngste ist und die letzten Jahre am Leben vorbei verbracht hat. So bleibt sie einfach fern von Zuhause, geht eine Affäre ein und trifft die merkwürdigsten und lustigsten Leute. Währenddessen sind ihre Kinder, ihr Mann und ihre Freunde von ihrem Verhalten etwas befremdet. Zunächst jedenfalls, denn so einige beginnen nun über ihr eigenes Leben nachzudenken.

Lulu ist eine Frau in der Midlife Crisis, wobei nicht jeder Leser dasselbe Alter erreicht haben muss, um mit der Figur die Sehnsucht nach Freiheit zu teilen. Die Frau gönnt sich einfach eine Auszeit. Um sich zu finden, sich über einiges klar zu werden, die Langeweile des Alltags zu bekämpfen und sich generell darüber bewusst zu werden, dass sie die ganzen letzten Jahre eigentlich überhaupt nicht richtig gelebt hat. Sie hat sich nur für die Kinder und für ihren Mann aufgeopfert und ihre Träume und Pläne vernachlässigt. Nun hinterfragt sie alles und macht sich emotional gänzlich nackt. Sie trägt zwar ihre Kleider, aber sonst kaum Besitztümer mit sich (schließlich war das Fernbleiben ein spontaner Impuls) und lässt sich für eine gewisse Zeit auf keinerlei Verpflichtungen ein, denn auch die neuen sozialen Kontakte sind nur auf Zeit angelegt. Dafür sind sie umso intensiver, denn da jeder weiß, dass der Kontakt befristet ist, sehnt man sich danach, jede Minute miteinander auszukosten und so kann das Miteinander nicht durch den Alltag abstumpfen, sondern wird immer das Besondere behalten.

Seite aus Lulu – Die nackte FrauLulu hält ihr bisheriges Leben nicht mehr aus. Schön ist, dass dies nie in ein Selbsthilfeprogramm mit esoterischem Anstrich ausartet. Dazu gehört auch der Pluspunkt, dass die Reaktionen von Lulus Umgebung geschildert wird. Neid, Unverständnis, aber auch viel Respekt vor dem Mut von Lulu, sowohl eine eine gewisse Feindlichkeit als auch Wohlwollen ihre gegenüber macht sich breit. Und auch folgenschwerer Zorn. Unglauben und Angst halten sich da oft die Waage. Dabei zeigt sich, dass man auch Freunde oftmals weniger kennt, als man geglaubt hat, und man fragt sich als Leser, ob man selber den Mut aufbringen würde, wie Lulu zu handeln, und wie man Freunden gegenüber reagieren würde, die sich so wie die Heldin verhalten. Auch wenn man vielleicht selbst mit seinem Leben nicht mehr so sehr zufrieden sein sollte: Würde man selber so handeln? Manchmal ist das Wissen, dass man so handeln will, sich aber nicht traut und demnach zwischen Angst und Sehnsucht zerrissen wird, erst recht schmerzlich.

Viele verschiedene Erzählperspektiven erlauben nicht nur mehrere Blickwinkel auf die Geschehnisse und die Frau, sondern erlauben es dem Autor Étienne Davodeau, jeweils einen neuen Tonfall zu finden, was die ganze Geschichte zusätzlich interessant macht. Besonders ein früher Hinweis auf ein folgenschweres Ereignis macht den Band sehr spannend, wobei die Auflösung überraschend ist. Dieser wage Hinweis verleiht dem Comic einen gewissen unheilvollen Grundton, wobei das Ende mehr als versöhnlich ausfällt. Es macht den Leser nachdenklich und zugleich ist die Erzählung romantisch, dramatisch und lustig. Und Davodeau gelingt es in seinen Zeichnungen, die schönen ruhigen Szenen gänzlich frei von Kitsch oder Postkartenidyll zu gestalten. Ein schöner Band, der dazu einlädt, das Leben zu feiern. Bei jeder Gelegenheit, die sich einem bietet.

 

Wertung: 7 von 10 Punkten

Ruhiger und nachvollziehbar erzählter Comic über eine Midlife-Krise, die zum Nachdenken und Träumen anregt.

 

Lulu – Die nackte Frau
Splitter Verlag, November 2012
Text und Zeichnungen: Étienne Davodeau
Übersetzung: Tanja Krämling
160 Seiten, farbig, Hardcover mit Schutzumschlag
Preis: 24,80 Euro
ISBN: 978-3-86869-560-1
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Abbildungen: © der dt. Ausgabe: Splitter Verlag