Das Horror-Genre ist in den letzten Jahren im Comicbereich immer beliebter geworden. Wirklich guten und überzeugenden Horror findet man jedoch eher selten. Eine willkommene Ausnahme im Genre-Einheitsbrei ist die Serie Locke & Key von Joe Hill, die nun erstmals auch auf Deutsch erscheint. In Form einer Dialog-Rezension besprechen Christopher Bünte und Thomas Kögel den ersten Band der Reihe.
Thomas: Es gibt wohl kaum einen Text über Joe Hill, der ohne den Hinweis auskommt, dass der Vater dieses Schriftstellers ein noch viel bekannterer Schriftsteller ist: Stephen King nämlich. So, damit hätten wir diese Erwähnung auch vom Tisch und auch genug zu dem Thema gesagt. Joe Hill hat bisher einige Kurzgeschichten und einen Roman geschrieben, alle mehr oder weniger im Horror-Genre angesiedelt. Das trifft auch auf seine erste Comic-Serie zu. Mit dem Begriff Horror-Comic ist Locke & Key aber nur unzureichend beschrieben, oder?
Christopher: Wenn man solche Labels verwenden möchte, ist Horror sicherlich gut gewählt. Auf den ersten Blick sieht Locke & Key ja auch aus wie eine Produktion von der Stange, marktgerecht und für eine bestimmte Zielgruppe geschrieben. Aber eigentlich steckt da mehr drin, meiner Meinung nach. Als Erstes würde ich anmerken, dass Locke & Key nicht nur Horror/Mystery ist, sondern auch eine starke Familiengeschichte. Die Figuren hängen in einem gut ausgedachten Beziehungsgeflecht und haben so manchen Konflikt zu bewältigen. Ich will hier jetzt nicht spoilern, aber ich hatte das Gefühl, dass es im Kern um eine tragische Familiengeschichte geht. Die Verarbeitung schlimmer Ereignisse spielt eine wichtige Rolle. Das ist eine tolle und klare innere Handlung, die den Leser mitzieht. Da verzichte ich gerne mal auf den einen oder anderen Monsterkampf. Ich hatte das Gefühl, dass die Story von einem frischen Wind durchzogen wird, meinetwegen mit einer winzigen Prise Manga, aber ganz sicher kein langweiliges Plastikprodukt. Ich weiß nicht … Ich kenne den US-Horror-Markt nur ein wenig. Womit würdest Du Locke & Key vergleichen? Ich meine, wenn Du es jemandem beschreiben müsstest, ohne zu viel zu verraten?
Thomas: „Mystery-Thriller“ würde als Etikett ganz gut passen. Oder „Teenager-Drama mit leichtem Horror-Einschlag“. Die Horror-Elemente beschränken sich ja auf einige wenige recht deftige Gewaltszenen, die so knapp dosiert sind und so unvermittelt daherkommen, dass sie umso größere Wucht entfalten. Von diesen Szenen abgesehen, erzählen Hill und sein Zeichner Gabriel Rodriguez sehr ruhig und konzentrieren sich auf ihre Figuren und deren Innenleben. Womit wir bei der Frage wären: Worum geht's eigentlich? Vor allem um drei Jugendliche, die dabei zusehen mussten, wie ihr Vater ermordet wurde. Nach diesen traumatischen Ereignissen ziehen sie mit ihrer Mutter in ein altes Haus aufs Land – ein Haus, das einige Geheimnisse verbirgt. Man könnte erwarten, dass daraus eine klassische Spukhaus-Klischeegeschichte wird, aber in diese Falle tappt Joe Hill eben nicht.
Christopher: Zum Glück nicht. Ihm geht es im Wesentlichen um gute Charaktere und einen guten Plot, möchte ich behaupten. Ein wichtige Rolle spielen die Schlüssel, die zu verschiedenen Türen in dem alten Haus passen. (Daher auch das Wort „Key“ im Titel. „Locke“ heißt die Familie, um die's geht.) Die Türen und Schlüssel sind verzaubert, also das phantastische Element der Story. Geht jemand durch eine solche Tür, verwandelt er sich. Wer jetzt aber ein nerviges Hin und Her erwartet, liegt falsch. In Band 1 gibt es eigentlich nur einen einzigen Schlüssel, rücksichtsvoll eingesetzt mit Blick auf die restliche Handlung. Die Story gefällt mir deshalb gut, weil es viele Verweise auf die Vergangenheit des toten Vaters gibt, die sich noch nicht zu einem schlüssigen Bild zusammenfügen, aber eine wichtige Rolle spielen. Sozusagen eine Geschichte hinter der Geschichte. Mir gefällt sowas, wenn es gut gemacht ist. Gibt der Geschichte eine gewisse Tiefe. Zu den drei Jugendlichen: Ich weiß nicht, wie's dir ging, aber mir hat der ältere Bruder am besten gefallen. Wie er hin- und hergerissen ist zwischen Verantwortung und Verzweiflung. Eine tolle Figur!
Thomas: Ja, Tyler ist sicher die am besten ausgearbeitete Figur. Aber auch seine Geschwister und seine Mutter sind interessant und haben auch noch eine Menge Potential für weitere Fortsetzungen. Nicht zu vergessen der Bösewicht. Ich bin sicher, dass Joe Hill mit ihm noch einiges vorhat und wir noch längst nicht alles gesehen haben. Das bringt mich zu einer der großen Stärken des Comics: Joe Hill wechselt nämlich regelmäßig die Erzählperspektive. Ein Kapitel wird aus Sicht des ältesten Bruders Tyler erzählt, das nächste aus der Sicht seiner Schwester Kinsey, und so weiter. So bekommen wir die Handlung aus verschiedenen Blickwinkeln serviert und können Blicke ins Innenleben mehrerer Figuren werfen.
Christopher: Hui! War mir beim Lesen gar nicht so aufgefallen. Aber jetzt, wo Du's sagst… Naja, nochmal lesen schadet da ja nicht. Ich hatte am Ende ein bisschen die Befürchtung, dass daraus so eine endlose Serie erwachsen könnte. Ich meine: Wieviele magische Schlüssel hat das Haus? Da kann man ja endlos Geschichten zusammenspinnen. Hoffentlich bleibt das Erzähltempo so gut wie im ersten Band. Und hoffentlich finden Sie einen einigermaßen zeitigen Absprung.
Thomas: In den USA erscheint die Hefte ja als Serie von Miniserien, so dass immer sechs Hefte eine eigene Geschichte ergeben. Joe Hill sagt in einem Interview bei TFAW.com, dass es insgesamt wahrscheinlich sechs Miniserien werden bis zum Abschluss.
Christopher: By the way: Die Zeichnungen sind klasse, oder? Ich dachte ja beim flüchtigen Durchblättern zuerst an normale US-Meterware. Aber die Bilder und die Kolorierung sind richtig gut. Detailliert und originell. War echt zufrieden.
Thomas: Was mich etwas gestört hat, sind die Gesichter, die Gabriel Rodriguez zeichnet. Sie wirken etwas statisch und maskenhaft und vor allem kriegt er das mit dem Alter der Figuren nicht gut hin. Der Onkel von Tyler sieht aus, als wäre er gleich alt, und auch Tylers Mutter wirkt nicht deutlich älter als er. Bis auf diese Schwäche ist Rodriguez' Artwork aber prima, die dicken Outlines kommen gut und besonders mochte ich seine Seitenlayouts. Da sind wirklich einige sehr gute Ideen dabei, die die Möglichkeiten der Kunstform Comic schön ausnutzen. Und die Kolorierung von Jay Fotos stimmt auch. Insgesamt überzeugt Locke & Key also sowohl graphisch als auch inhaltlich.
Christopher: Da schließe ich mich an. Locke & Key ist eine Perle im US-Mainstream. Bleibt zu hoffen, dass die nächsten Bände weiterhin auf diesem hohen Niveau bleiben. Manchmal gehts ja nach dem ersten TPB steil nach unten. Wäre schade. Zumal wirklich guter US-Horror im Comicbereich meiner Ansicht nach echt selten geworden ist.
Locke & Key 1: Willkommen in Lovecraft
Panini Comics, September 2009
Text: Joe Hill
Zeichnungen: Gabriel Rodriguez
Softcover mit Klappbroschur; 172 Seiten; farbig; 16,95 Euro
ISBN: 978-3-86607-850-5
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Abbildungen: © Panini Comics