Rezensionen

Kapitän Scharlach

Cover von Kapitän ScharlachDie Piraten sind in Paris eingefallen! Ein Dreimaster gleitet zwischen den Fassaden des Faubourg Saint-Germain. An Bord und sogar in einer Spelunke entfesselt Kapitän Scharlach Blitze und heftige Regenschauer. Alles scheint, als wäre eine von Autor Marcel Schwobs Romanfiguren zum Leben erweckt worden! Und zwar von Autor David B. (Die Heilige Krankheit bei Edition Moderne, Auf dunklen Wegen bei avant, Der Hop-Frog-Aufstand bei Epsilon) und Zeichner Emmanuel Guibert (Der Fotograf bei Edition Moderne, Schwarze Oliven bei Epsilon). Schwob war einer der großen Gelehrten seiner Zeit. Er wird in Chaville bei Paris in eine großbürgerliche Familie von Rabbinern und Ärzten geboren.

Aber nun wird Marcel Schwob zur Hauptfigur in diesem Comic. Der Büchernarr wird von zahlreichen mysteriösen Ereignissen in Paris heimgesucht. Seine Bewunderung für das Abenteuer und das Verbrechen wird durch wahre Geschehnisse auf die Probe gestellt, als seine Freundin Monelle von dem stets maskierten Kapitän Scharlach auf dessen fliegendes Schiff entführt wird. Doch so leicht will Schwob nicht aufgeben.

David B. strickt einen herrlich amüsanten Plot, der eine Verbeugung vor dem Erzählen und dem Lesen ist. Die fanatische Hingabe an die Welt der Bücher und vor allem der viktorianischen Literatur ist in jedem Panel spürbar. Allein die Steam-Punk-Elemente wie der Zeppelin mit Maschinengewehr kann beispielhaft für die Hommage an diese Literaturepoche genommen werden. Schwobs Liebe für Abenteuerromane oder der phantastischen Literatur wie Robert Louis Stevensons Die Schatzinsel beziehungsweise Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde werden von David B. dabei mühelos in die Erzählung der Graphic Novel übersetzt.

Innenseite aus Kapitän ScharlachAuch weitere literarische Reminiszenzen an Klassiker wie Alexandre Dumas‘ Der Mann in der eisernen Maske werden beispielsweise durch die Figur des Kapitän Scharlachs verkörpert und wie dessen rätselhafter Name gegen Ende aufgeklärt wird, macht Kapitän Scharlach zu einem vielschichtigen Verweiskomplex. Aber David B. fügt in seine phantastische Kriminal- und Abenteuergeschichte auch eine ordentliche Portion schwarzen Humor ein. Nicht zuletzt die anarchistische Grundhaltung der Piraten sorgt für einen satirisch-absurden Erzählton.

Doch damit nicht genug: Mit dem unkonventionellen Verhältnis von Schwob und der janusköpfigen Monelle, die zugleich Hure und Heilige zu sein scheint, sind in Kapitän Scharlach auch noch Elemente des Beziehungsromans enthalten, die in angemessener Kürze einfühlsame psychologische Charakterskizzen des ungleichen Paares liefern. Auch die Nebenfiguren sind beachtenswert. So verweist das ermittelnde Duo – der egozentrische und kalte Commisaire und sein Assistent Pélicain – augenscheinlich auf Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes und Dr. Watson, womit wir erneut bei der viktorianischen Literatur angekommen wären.

Innenseite aus Kapitän ScharlachDie Bilder von Kapitän Scharlach bestechen durch Guiberts individuellen Strich, der sich durch kräftig getuschte Linien auszeichnet. Dessen Zeichnungen sind dabei leicht reduktionistisch, weisen aber dennoch Details auf. Einmalig ist die flächige Aquarellfarbtechnik, die feine Nuancen durch Pinselspritzer und Verdünnung durch Wasser oder dem leicht übermalten Konturen erzeugt. Bemerkenswert ist auch das Spiel mit dem Licht, das Guibert mit genial einfachen beziehungsweise einfach genialen Mitteln erzielt – nämlich indem er sich beispielsweise auf einen Farbton konzentriert und diesen lediglich leicht variiert.

Kapitän Scharlach ist inhaltlich, erzählerisch und grafisch ein herrlich-amüsanter Comic, der durch die Vermischung von Abenteuer und Phantastik innerhalb eines historischen Rahmens eine Hommage an die viktorianische Literatur beziehungsweise an die Welt der Bücher überhaupt darstellt. Aufgrund der Verbindung von einfühlsamen Charakterdarstellungen und einem satirisch-absurden Humor sticht Kapitän Scharlach angenehm aus der überhandnehmenden Flut an Comicpublikationen heraus.

 

Kapitän Scharlach
avant-verlag, April 2010
Text: David B.
Zeichnungen: Emmanuel Guibert
Softcover, 64 Seiten, farbig; 19,95€
ISBN: 9783939080428

Hervorragend!

Facettenreiche phantastische Abenteuer-Satire mit künstlerisch einmaligen Bildern

 

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Abbildungen © Emmanuel Guibert, der dt. Ausgabe avant-verlag