Nach der wunderbaren Graphic Novel Wie ein leeres Blatt, die in jeder Hinsicht überzeugen konnte und vollkommen zu Recht bejubelt wurde, kommt nun also Eine erlesene Leiche. Das erweckt natürlich eine große Erwartungshaltung gegenüber dem neuen Werk von Pénélope Bagieu, die hier auch selbst das Skript verfasst hat, zumal der Comic auch in der Preisauswahl des Festivals von Angoulême zu finden war. Angesichts dieser hohen Erwartungen konnte man fast nur enttäuscht werden.
Dabei sind die Voraussetzungen für einen Erfolg gegeben. Denn auch Eine erlesene Leiche handelt indirekt von einer Identitätskrise. Zoé ist unzufrieden mit ihrem Leben. Ihr Job als Hostess hängt ihr zum Hals raus und ihr arbeitsloser Freund ist ihr keine große Unterstützung mehr. Durch einen Zufall lernt sie den berühmten Schriftsteller Thomas kennen, der vollkommen zurückgezogen lebt. Zoé wird zu seiner Muse und sie genießt dessen Aufmerksamkeit, doch haben beide unterschiedliche Vorstellungen vom Leben.
Während die Identitätskrise in Wie ein leeres Blatt wörtlich zu nehmen war, da sich die Heldin des Comics an nichts mehr erinnern konnte, ist das Thema hier nicht so offensichtlich. Ja, jede der Hauptpersonen steckt in einer Sinnkrise und kann ihren Weg nur zusammen mit anderen finden und sich so von allem befreien. Allerdings sind die Figuren hier nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit anderen unzufrieden. Insofern ist die Lösung etwas unbefriedigend. Man merkt Bagieus Graphic Novel stellenweise auch manche Unsicherheit an und ist versucht, einige der besten Momente des Vorgängerbandes dem damaligen Autor Boulet zuzuschreiben. Eine erlesene Leiche kann also die Erwartungen nicht ganz erfüllen, ist aber dennoch ein großer Wurf.
Wie kann das sein, wenn sich die bisherigen Zeilen bislang wie ein Verriss gelesen haben? Zum einen liegt es an der Unvorhersehbarkeit des Plots. Zu Beginn fühlt man sich an eine Version des Filmes Finding Forrester erinnert, die Story geht aber andere Wege und führt nicht nur die Figuren, sondern auch den Leser dezent in die Irre. Diese Unvorhersehbarkeit wird interessanterweise mit einer recht einfachen Geschichte, die nur das Dornröschenthema wieder neu variiert, kombiniert und entfaltet dadurch einen großen Charme. Dabei wird die Macht und Zerstörungskraft von Literatur nur nebenbei behandelt (dazu lese man die herausragende Serie Unwritten), vielmehr wird die Trias der Figuren in den Mittelpunkt gestellt.
Da die Emotionen und Eigenheiten der Protagonisten zentral sind, fühlt sich der Leser empathisch angesprochen. Zum anderen ist die Geschichte grafisch sehr geschickt umgesetzt. Das ist auf den ersten Blick überraschend, denn einerseits setzt die Künstlerin cartoonhafte mimische Übertreibungen ein und verzichtet andererseits auf so gut wie alle Symbole. Was hier zu sehen ist, ist also in Gestik und Mimik alles andere als dezent, aber dennoch gehen die Zeichnungen ans Herz, denn Humor und Ironie dienen als eine Art Spiegelung und sprechen den Leser direkter an, als es Symbole könnten. Bis zum Schluss, der eine schöne Rache an der Männerwelt ist, ist man gebannt, was hier passiert, obwohl es sich eigentlich nicht um einen Krimi handelt, wie es der Titel suggeriert.
Was zum verqueren Charme des Comics zusätzlich beiträgt, ist die Tatsache, dass die Figuren im Grunde gar nicht sonderlich sympathisch sind, einem aber doch näher kommen. Somit fühlt man sich am Ende etwas ertappt und muss zugeben, dass man verzaubert wurde, ohne wirklich sagen zu können, warum. Ein erlesenes Vergnügen.
Wertung:
Geradlinig mit Witz und Ironie in das Herz des Lesers.
Eine erlesene Leiche
Carlsen Verlag, Oktober 2013
Text und Zeichnungen: Pénélope Bagieu
Übersetzung: Ulrich Pröfrock
128 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 16,90 Euro
ISBN: 978-3-551-73646-8
Abbildungen: © der frz. Ausgabe: Gallimard