Will Eisner – kann man ihn unvoreingenommen lesen, ohne gleich von seinem vorauseilenden Ruf in der Comicszene erschlagen zu werden? Dürfte man sich als Comicrezensent überhaupt herausnehmen, diesen „wichtigsten Zeichner Amerikas“ (F.A.Z.) zu kritisieren? Ich habe versucht, den ersten Band der „Will Eisner Bibliothek“ im Carlsen Verlag, Ein Vertrag mit Gott – Mietshausgeschichten so zu lesen, wie es ein unbescholtener Textbücher-Leser tun würde, dem plötzlich dieser voluminöse Band in die Hände fällt – und war schlichtweg begeistert!
Bei einer unvoreingenommenen Annäherung mutet der Titel schon sonderbar an: Kontrakte mit höheren Wesen und Erlebnisse in Mietshäusern sind jedenfalls nicht der Garantieerfolg bei Hollywood-Produktionen. Der Sammelband vereinigt die Geschichten „Ein Vertrag mit Gott“ (1978), „Lebenskraft“ (1983) und „Dropsie Avenue“ (1995), die aus verschiedenen Schaffensperioden stammen, aber dennoch eine gelungene Einheit im vorliegenden Werk bilden.
Verblüffend, wie Eisner es schafft, den Leser anhand von gradlinig erzählten Geschichten eine Zeitepoche, menschliche Gemütsbewegungen und soziale Problemlagen nahe zu bringen. Dabei puzzelt er die einzelnen Episoden geschickt durch zahlreiche Querverweise, neue Generationen, Nachmieter, wiederkehrende Personen zusammen, so dass ständig neue Bedeutungsebenen hervortreten und auf Subtexte angespielt wird. Für Comic-Feinschmecker!
Die ganz gewöhnlichen Vorbehalte gegen die neuen ausländischen Mieter im Viertel werden generationenübergreifend ironisch gebrochen, wenn die vorab beschimpften Engländer später ihrerseits die verhassten „Krauts“ drangsalieren, gemeinsam gegen neureiche Iren vorgehen, anschließend dieselben gegen „Itaker“ und Spanier pöbeln.
Besonders die „Dropsie Avenue“-Geschichte übersteigt mein Analysevermögen: Ich kann nur festhalten, dass die Hauptfigur der Jahrzehnte umgreifenden Erzählungen das Stadtviertel (!) ist. Ich kann nur feststellen, dass die Erzählungen mich von Anfang bis Ende immer tiefer hineingezogen haben, aber ich kann nicht so nebenbei mal analysieren, wie Eisner dies handwerklich bewerkstelligt hat. Faszinierend, aber auch eine Zumutung für konventionelle Leser, die ohne bleibende Hauptfigur und simple Story überfordert sind! Und ganz ungewohnt für US-amerikanische Autoren: ganz und gar nicht prüde…
Erwähnenswert ist zudem, wie aktuell die zahlreichen eingewobenen Themen geblieben sind, die eingebunden sind:
- Die Ausführungen zur Weltwirtschaftskrise von 1929 lesen sich nach der letzten Finanzkrise mit erhöhter Spannung.
- Der deutsche Dauerbrenner Migration und Integration und schon damals illegale Einwanderer in die USA, aber auch „Parallelgesellschaften“ in US-amerikanischen Städten kommen in hundert Facetten vor.
- Gottesglaube und erfahrenes Leid (Tod der eigenen Tochter)
- Immobilienspekulanten, sozialer Aufstieg und asozialer Abstieg eines Stadtviertels, Mietmafia und korrupte Vermieter
- Liebe und Fremdgehen in Lebenskrisen und zu Zeiten, wenn Geld und nicht Waschbrettbauch für die Partnerwahl entscheidend war.
Zum Äußeren: 508 Seiten stark und edel gebunden, mit Einlegebändchen, macht schon das Zugreifen (haptische) Freude. Das Erscheinungsbild aus beigen Seiten mit dunkelbraunem Kontrast ist angenehm fürs Auge. Das Format der Seiten ist ausreichend groß (oft sind stark verkleinerte Miniaturansichten ein Manko bei gesammelten Nachdrucken, finde ich immer wieder!) und verstärkt die Wirkung der Zeichenkunst Eisners. Vor- und Nachworte runden den exzellenten Gesamteindruck ab. Für eingefleischte Fans gibt es eigens für diesen Band gezeichnete Seiten, die den Übergang erleichtern, insgesamt zwölf an der Zahl.
Ein Vertrag mit Gott. Mietshausgeschichten
Carlsen Verlag, März 2010
Text und Zeichnungen: Will Eisner
Mit einem Vorwort von Will Eisner und einem Nachwort von Andreas C. Knigge
508 Seiten, Hardcover, schwarz-weiß (bzw. sepiafarben), 36 Euro
ISBN 978-3-551-75044-0
Leseprobe
Absolut fantastisch, Erzählkunst auf höchstem Niveau!
Abbildungen © Carlsen Verlag
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