Rezensionen

Die Welt von Lucie 1

 Der Fernsehserie Lost wird gerne nachgesagt, dass für jedes mysterlöse Rätsel, das darin aufgelöst wird, mindestens zwei neue Fragen aufgeworfen werden. Ob man das nun als Vorwurf oder als Lob versteht, kommt ganz auf den Standpunkt an. Ähnlich verhält es sich mit dem Comic Die Welt von Lucie, den der Splitter-Verlag als Zweiteiler im Buchformat veröffentlicht.

Paranormale Phänomene stehen im Mittelpunkt dieses Mystery-Thrillers, der seinen Ausgang bei einem Terroranschlag auf ein Einkaufszentrum in einer amerikanischen Stadt nimmt. Ein kleines Mädchen namens Margaret wird  bewusstlos, aber äußerlich völlig unverletzt unter den Trümmern gefunden und soll deshalb in einem Institut für paranormale medizinische Forschung untersucht werden. Die Ärztin, die die Untersuchung leitet, verfügt über telepathische Fähigkeiten. Doch noch viel talentierter auf diesem Gebiet ist ihr Ex-Freund, der Russe Sascha Iablokov. Während die beiden sich mit dem Geheimnis von Margaret beschäftigen, ist die Polizei auf der Suche nach dem Attentäter. Dabei ermittelt sie auch im Milieu der jugendlichen Streetgangs, die kurz nach dem Anschlag Zulauf bekommen: Wie aus dem Nichts taucht bei diesen Straßenkids ein blondes Mädchen auf, dass kein Wort spricht, aber scheinbar Lucie heißt. Und dann interessiert sich auch noch die Religionsgemeinschaft „Church of God“ für die Vorfälle.

 Die Welt von Lucie eröffnet bereits auf den ersten Seiten zahlreiche parallel verlaufende Handlungsstränge und führt ein großes Ensemble von Figuren ein. Die Orientierung kann da anfangs schon mal schwerfallen. Ständig wechseln Schauplätze und Protagonisten, gelegentlich auch die Zeitebene, was dazu führt, dass man als Leser immer wieder mal zurückblättert, um sich im verwirrenden Dickicht der Story zurechtzufinden. In den ersten Kapiteln werden etliche Spuren ausgelegt und immer wieder mysteriöse Szenen eingestreut, die zunächst keinen Sinn ergeben. Erst gegen Ende des dritten von vier Kapiteln lichtet sich der Nebel ein wenig, die Zusammenhänge werden klarer und die Story wird nach dem anfänglichen Zick-Zack-Kurs etwas geradliniger. Hier erweist sich die Formatwahl von Splitter als Vorteil: Wäre dies eine klassische Albenserie, würde der Leser nach der ersten Ausgabe mit allzu viel Fragezeichen dastehen. So aber bekommt er gut 130 Comicseiten am Stück, die gegen Ende deutlich an Fahrt gewinnen.

A propos Format: Im Original erschien Le Monde de Lucie zunächst in einer für Frankreich recht ungewöhnlichen Form, nämlich als Heft im Viertel-Jahres-Takt in der „Collection 32“ beim Verlag Futuropolis. Diese Verlagsschiene wurde jedoch eingestellt, so dass die Serie später zum Albenformat wechselte. Noch ist die Reihe in Frankreich nicht abgeschlossen, so dass es noch eine Weile dauern wird, bis der zweite und letzte Band bei uns erscheinen kann.

 Etwas abweichend vom typischen frankobelgischen Mainstream sind auch die Zeichnungen von Guillaume Martinez. Dieser arbeitet mit sparsamen, eher skizzenhaften Strichen, richtig plastisch werden seine Bilder erst durch die Kolorierung. Zwischendurch schimmert ein dezenter Manga-Einschlag durch, der aber Mangaphobiker nicht stören dürfte. Eine wichtige Rolle spielt die Farbgebung, die jeden der zahlreichen Schauplätze in ein anderes Licht taucht, und so die vielen Szenenwechsel wirkungsvoll unterstützt.

Wie man Die Welt von Lucie letztlich beurteilt, hängt wohl stark davon ab, welches Verhältnis man zur Parapsychologie, zu übernatürlichen Phänomenen wie Telepathie, Levitation oder Poltergeistern hat. Zwar muss man kein beinharter Uri-Geller-Fan sein, um Gefallen an dem Comic zu finden, denn Autor Kris liefert eine handwerklich sehr solide und spannende Geschichte ab. Der Zugang wird jedoch deutlich leichter fallen, wenn man eine gewisse Aufgeschlossenheit gegenüber dem Thema mitbringt. Ich persönlich tue mich jedenfalls ziemlich schwer, Figuren ernst zu nehmen, die von Dingen reden, die ich für Hokuspokus und Aberglauben halte.

Was der Welt von Lucie womöglich fehlt, sind klare, sympathische Identifikationsfiguren, die den Leser an die Hand nehmen und ihn auch durch unglaubwürdige Elemente führen können. In etwa so, wie Mulder und Scully das in Akte X getan haben. Hier gibt es stattdessen ein großes Ensemble von Figuren, von denen keine eindeutig im Zentrum steht – und die meisten von ihnen sind eher zwielichtig als sympathisch.

Trotz dieser Schwächen bleibt unterm Strich ein spannender, komplex gewebter Comic-Thriller, bei dem zwar viele Fragen offen bleiben, dem aber durchaus zuzutrauen ist, dass er sie im Abschlussband zufriedenstellend lösen wird.

DIe Welt von Lucie 1: Und warum nicht die Hölle …
Splitter Verlag, Dezember 2009
Text: Kris
Zeichnungen: Guillaume Martinez
144 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, farbig; 19,80 Euro.
ISBN: 978-3-86869-097-2

Solider Thriller für Freunde des Paranormalen

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Abbildungen: © Splitter Verlag