Die Sputnik-Jahre erzählt vom kleinen Jungen Igor, der im Jahr 1957 in einer kleinen lothringischen Industriestadt lebt. Dort liefern sich Kinderbanden nach der Schule Wettkämpfe um die Vorherrschaft, als Indianer verkleidet mit Pfeil und Bogen oder auf dem Fußballplatz. Zur Not auch mit Gewalt. Beeinflusst vom Klassenkampf der Arbeiter, dem Vormarsch der kommunistischen Ideologie und fasziniert vom Satelliten, den die Russen in die Erdumlaufbahn entsendet haben, wächst Igor in einer Umgebung auf, in der er sich seinen Platz erst noch erkämpfen muss.
Igor fordert den Führungsposten seiner Bande im Streit gegen die „da unten“, verliebt sich und versucht mit seinen Freunden Schwarzpulver zu stehlen, um Professor Bienleins Rakete aus dem Tim & Struppi-Comic „Reiseziel Mond“ nachzubauen.
Das klingt im ersten Moment wie eine harmlose Jugenderinnerung, was Die Sputnik-Jahre zweifellos ebenfalls ist. Nur geht Baru (Autoroute du Soleil, Wut im Bauch) hier wieder ein ganzes Stück weiter. Der Comic zeichnet sich, wie so oft bei seinen Werken, durch eine permanent mitschwingende Sozial- und Gesellschaftskritik aus. Baru porträtiert das Leben in den 50er Jahren sehr präzise, er thematisiert die Probleme der Unter- bis Mittelschicht, zerlegt die französische Kleinstadt in ihre kleinsten Bestandteile: die typische Arbeiterfamilie. Dass vor alldem auch noch eine sehr amüsante und anschauliche Kindheitserzählung in all ihren realistischen Details abläuft, ist ein großes Verdienst des Künstlers.
Welch großartiger Geschichtenschreiber er ist, hat der Franzose in zahlreichen Publikationen bewiesen, Die Sputnik-Jahre ist vielleicht seine stärkste Arbeit. Ein besonderes Kennzeichen sind dabei auch immer die äußerst plastischen Bilder, die jede Emotion mühevoll herausstellen und schon so realistisch sind, dass sie zuweilen an der Grenze zur Überzeichnung stehen. Baru ist ein Meister der karikierenden Authentizität.
Die Sputnik-Jahre wurde bereits vor einigen Jahren von Carlsen in vier Alben veröffentlicht, Reprodukt hat nun eine etwas kleinformatigere Gesamtausgabe vorgelegt. Die kleineren Korrekturen am Lettering und die Einarbeitung grafischer Details sind marginal und dürften nur den wenigsten auf den ersten Blick auffallen, dennoch gebührt dem Verlag Respekt dafür, dass er sich in vielen Arbeitsstunden um die mühevolle Perfektionierung dieser hervorragenden Ausgabe gekümmert hat (Details dazu werden im Verlagsblog beschrieben).
Ein weiterer Vorteil gegenüber den Carlsen-Alben ist ein achtseitiges Nachwort, respektive ein gezeichneter Epilog, in welchem Igor erklärt, wie man einen Bogen baut.
Wertung:
Der vielleicht beste Comic von Baru, eine empfehlenswerte Neu-Edition
Die Sputnik-Jahre
Reprodukt, Juni 2012
Text und Zeichnungen: Baru
Übersetzung: Martin Budde
208 Seiten, farbig, Softcover
Preis: 978-3-943143-10-2
Leseprobe
Abbildungen: © der dt. Ausgabe: Reprodukt