Wie ein Geständnis liest sich die Begrüßung, in der Bourhis beichtet, dass er noch nie eine Überdosis hatte, kein ausgebildeter Rockkritiker ist und auch sonst an keinem prägenden Event der Rockgeschichte teilgenommen hat. Aber gerade weil er keinerlei Berechtigung hat dieses Buch zu schreiben, ist Das kleine Rockbuch ein so wohltuend unprätentiöses Lesevergnügen und wesentlich angenehmer als irgendwelche alternden Rockstars, die uns in Dauerwerbesendungen umfassende Rockumentaries und allumfassende Enzyklopädien des Rock andrehen wollen.
Auch wenn Bourhis keine Vollständigkeit beansprucht, so versucht er doch eine kohärente Erzählung aufzubauen, die sich an geschichtlichen Ereignissen orientiert. Von der Erfindung der ersten Juke-Box bis hin zu Britney Spears tauchen immer wieder neue Akteure auf, die, vertreten durch ihre Alben, Singles oder einfach nur durch ihre Anekdoten, Rock-Geschichte geschrieben haben. Als erfrischende Ergänzung zu den immer gleich genialen Geschichten der Beatles und der Stones erzählt Bourhis auch vom französischen Rock'n'Roll, von Serge Gainsbourg und von Sebastian Tellier.
Selbstverständlich erzeugt das Nebeneinander von Bildern immer eine Kausalität und natürlich beschreibt Bourhis so den Weg des Rock'n'Roll von Elvis zu den Stone Roses, doch lädt er auch explizit dazu ein, sich seinen eigenen Weg zu bahnen, denn die Geschichte des Rock bietet keine „richtige“ oder „falsche“ Chronologie. Durch simples Aneinanderreihen folgt auf Johnny Cashs legendären Auftritt im Folsom Prison Blues Iggy Pops Konzert mit seiner Band The Stooges, bei dem er sich in Glasscherben gewälzt hat. Eigentlich haben diese zwei Ereignisse auf den ersten Blick nicht viel gemein. Doch wenn man genauer hinschaut, zeigen beide, dass es neben dem friedvollen Woodstock-Festival auch eine dunkle Seite des Jahres 1969 gab. Das kleine Rockbuch ist zwar eine turbulente Zeitreise durch die Musikgeschichte, doch helfen einleitende Jahreszahlen, ein Index der Künstler und eine Juke-Box mit den Singles von 1950 bis 2009 immer wieder ein bisschen Ordnung ins Chaos zu bringen.
Graphisch orientiert sich der Comic an einem klassischen Neun-Panel-Gitter. Single- und Albencover, die teils nachempfunden, teils neu interpretiert wurden, fügen sich in einer Reihe entsprechend ihrer Veröffentlichung kommentarlos ein. Aber an die Strenge dieses Gitters hält sich Bourhis fast nie; er wählt für jedes einzelne Cover, für jeden Geburts- und für jeden Todestag der Musiker ein eigenes Bildformat und misst den Ereignissen so ganz subjektiv ihren eigenen Wert zu. Zwischenzeitlich bricht Bourhis das Netzwerk der Panels gänzlich auf, um Platz für eine Sinatra-Anekdote zu schaffen, um Elvis berühmten „Auftritt“ bei Nixon zu zeigen oder einfach nur um die Einführung des I-Pods in Frankreich zu feiern. Während sich die Typographie im Comic dem Stil der Original-Cover und der Musikrichtung anpasst, ist Bourhis' Hauptwerkzeug ein feiner Strich, der Gainsbourg sowohl einen melancholischen Touch verleihen kann, als auch die White Strips experimentell interpretieren kann.
Wie jedes gute Rock-Album sind auch in Das kleine Rockbuch ein paar Bonus-Tracks eingebaut. So kann man zum Beispiel den musikalischen Werdegang von Björk verfolgen: Von frühen Beatles-Coversongs (“Álfur út úr hól“), über ihre Punkphase mit ihrer Band Tappi Tikarrass (was so viel heißt wie „Verstopft den Hurenarsch!“) bis zu ihrem heutigen Hits. Auch für Brian Wilson (Beach Boys) hat Bourhis viel Platz eingeräumt, um zu zeigen wie dieser sich einen erbitterten Kampf mit seiner eigene Psyche liefert und sich das Smile-Album von der Seele abringt. Die Geschichten werden von Jahr zu Jahr subjektiver, da Bourhis auch seine eigene Geschichte mit in den Comic einfliessen lässt Dies ist vermutlich auch der Grund warum eine Band wie Grandaddy im Pop-Battle gegen Radiohead gewinnt. Natürlich gibt es auch Verlierer: Die heißen bei Bourhis Michael Jackson, der nicht gegen die Genialität von Prince ankommt und die Band Muse, deren Musik Bourhis schlichtweg als Flatulenz bezeichnet.
Mit Das kleine Rockbuch ist Hervé Bourhis wirklich ein kleines Meisterwerk gelungen. Der Franzose setzt sich ganz bewusst von einer allzu strengen graphisch Form ab und führt durch simples Aneinanderreihen von Ereignissen und Anekdoten, von Alben und Singles in eine etwas andere Geschichte des Rock ein. Einsteiger werden viel Informatives finden und fortgeschrittene Rocker können auf die eine oder andere nette Geschichte gespannt sein. Eine vollständige Lektüre dieses Buches führt nicht zwangsläufig zu einem besseren Verständnis von Rockmusik; es ist eher als Eintrittskarte in die Erlebniswelt der Rockmusik gedacht. Eine Welt, der man sich in Ruhe widmen kann, und bei deren Lektüre Erinnerungen unweigerlich an die Oberfläche drängen.
Eine Video-Performance von Hervé Bourhis bei der Arbeit.
Das kleine Rockbuch
Carlsen Verlag, Oktober 2009
Zeichnungen/Text: Hervé Bourhis
208 Seiten, Softcover, s/w, 19,90 Euro
ISBN 9-783551-75040-2
Abbildungen: © Carlsen Verlag