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Mike Carey, Neil Gaiman und „The quintessential Constantine Story“ – Woran man einen guten Hellblazer-Autoren erkennt

Unsere Serie über die legendäre, über 300 Ausgaben laufende Vertigo-Serie Hellblazer geht weiter: In Teil 6 beschäftigt sich Christian Muschweck diesmal mit einem Sonderband, der außerhalb der Heftserie erschienen ist: Hellblazer – All His Engines von Mike Carey und Leonardo Manco.

Bild1, Hellblazer – All His Engines (Carey, Manco 2005)

2005 ist das eingetreten, was viele Fans insgeheim befürchtet hatten: Hellblazer wurde verfilmt. Mit Keanu Reeves war John Constantine denkbar falsch besetzt und man kann nur dankbar sein, dass diese krude Hollywood-Klamotte keinen größeren Einfluss auf die Comicserie ausüben konnte. Noch waren Comics das Leitmedium, an denen sich Comic-Verfilmungen orientierten. Gut möglich, dass das nicht mehr lange so bleibt: Immerhin hat die neue Comicserie den Titel des Films, Constantine, um den Wiedererkennungswert bei einem möglichen Franchise zu erhöhen, und zweitens nimmt Warner bei jedem Film viel Geld in die Hand und wird wohl dafür sorgen, dass die Nebenprodukte (so weit sind wir wohl schon, dass die Comics die Nebenprodukte sind) auf Linie getrimmt sind. Alles im Sinne der Fans, versteht sich.

Aber noch befinden wir uns im Jahre 2005 und die Comicwelt ist noch halbwegs in Ordnung. Als Nebeneffekt zur Verfilmung gab es eine kleine Hellblazer-Offensive am Kiosk, die den Comiclesern neben der unvermeidlichen Comicadaption des Films mit dem Hardcover-Buch All His Engines auch eine recht schöne „Original Graphic Novel“ bescherte, eine Sonderproduktion, die vom damals amtierenden Hellblazer-Team Mike Carey und Leonardo Manco gestaltet wurde. Zur Feier des Anlasses haben die Verantwortlichen sich nicht lumpen lassen und dem Buch einen hohen Produktionsstandard spendiert, mit schönem festen Papier, glatt, aber ohne übertriebenen Glanzeffekt. [Die deutsche Ausgabe erschien 2007 bei Panini unter dem Titel John Constantine – Hellblazer 1: Hölle auf Erden]

Üblicherweise sind die Vertigo-Paperbacks ja auf rauem, stark saugenden Papier gedruckt, welches einerseits die Farben sehr dunkel wiedergibt, andererseits aber gerade schwarze Flächen eher zu hell widerspiegelt. Der daraus resultierende farbliche Matsch hat durchaus einen gewissen Schmuddelcharme, der der Reihe Hellblazer nicht einmal schlecht zu Gesicht steht, doch handelt es sich hier wohl kaum um eine künstlerische Entscheidung. Man möchte die Comics einfach möglichst billig produzieren.1 All His Engines dagegen leuchtet in selten gesehener Qualität und lässt Leonardo Mancos Artwork richtig gut aussehen, mit klar umrissenen Konturen, schönen Kontrasten, satten Schwarztönen und leuchtenden, aber auch gut ausgewählten Farben.

Und als wäre das nicht genug, wird das Buch auch noch mit einem Neil-Gaiman-Zitat auf dem Cover veredelt: „Mike Carey has written the quintessential Constantine story. If you want to see what the fuss is all about, you should read this book.“2 Wow. Mike Carey hat die Figur also durchdrungen, Constantines Wesen auf den Punkt gebracht und seine Essenz herausgearbeitet? Tatsächlich leidet All His Engines aber durchaus ein bisschen an dem Problem vieler amerikanischer OGNs (original graphic novels): Einerseits geriert es sich hochtrabend als Comicroman, andererseits aber hat es inhaltlich nicht mehr zu bieten als die typische Folge einer durchschnittlichen amerikanischen Krimiserie.

Aber jetzt zur Handlung:

Tricia, die Enkelin von John Constantines langjährigem Kumpel Chas Chandler fällt aus unerklärlichen Gründen in ein Koma, woraufhin Chas gegen den Willen seiner Frau Renee Constantine um Hilfe bittet. Dieser findet über eine Seance mit einem ihm bekannten Okkultisten schnell heraus, dass die Ursache in Los Angeles zu suchen ist. Dort hat sich der Dämon Beroul eingenistet, der Menschen ins Koma fallen lässt und deren Seelen einsammelt, um seine eigene kleine Hölle auf Erden aufzubauen. Aber Los Angeles ist unter Dämonen ein heiß umkämpftes Pflaster, auch andere Dämonen möchten dort ihre Zweigstellen der Hölle eröffnen. Deshalb macht Beroul Constantine ein Angebot: die Rückgabe von Tricias Seele, wenn Constantine die Konkurrenz ausschaltet.

Bild 2, Hellblazer – All His Engines (Carey, Manco 2005)

Nichts einfacher als das: Constantine findet eine Gruppe Hispanics, die es ihm ermöglicht, Kontakt mit dem aztekischen Totengott Mictlantecuhtli aufzunehmen. Dieser hasst die Dämonen aus der Hölle und willigt ein, Constantine zu helfen. Danach arrangiert John eine Versammlung in einer Kirche. Er hat den feindlichen Dämonen versprochen, ihnen dort Berouls Kopf auf einem Silbertablett zu liefern, doch als diese am vereinbarten Ort erscheinen, öffnet sich die Kirchentür, der aztekische Totengott stürzt herein und richtet ein Massaker unter den Höllendämonen an. Diese haben keine Chance, denn die Fluchtwege wurden rechtzeitig mit Weihwasser versiegelt, was zwar die Dämonen der Hölle schwächt, einem aztekischen Totengott aber keine Kopfschmerzen bereitet.

Bild 3, Hellblazer – All His Engines (Carey, Manco 2005)

Auftritt Beroul: Dieser erscheint nach dem Massaker und fädelt seinen eigenen Deal mit Mictlantecuhtli ein. Zwischen beiden soll friedliche Koexistenz herrschen, dafür soll jede zehnte Seele, die Beroul einsammelt, an Mictlantecuhtli fallen. Mictlantecuhtli willigt auch hier ein. Es ist eben in der Hölle wie auf Erden: Alles strebt nach Gewinn und Macht. Constantine dagegen erhält keinen Lohn. Beroul bricht sein Wort und behält das Kind als Druckmittel, um John weiterhin erpressen zu können.

Bild 4, Hellblazer – All His Engines (Carey, Manco 2005)

Beroul übersieht, dass John Constantine dann am stärksten ist, wenn seine Feinde sich sicher wiegen. Constantine geht in das Krankenhaus, in dem die Komapatienten liegen, und verstreut Salz. Damit unterbricht er die Verbindung zwischen Beroul und den Seelen der Schlafenden und lockt diesen aus seiner sicheren Festung. Mit Mictlantecuhtlis Hilfe – dieser spielt mehr als ein doppeltes Spiel – vereinigt er Tricias Seele mit ihrem Körper. Beroul hat Constantine selbst erzählt, dass er Tricias Seele in seiner Brust versteckt hält, und als der Körper des Mädchens sich am Ort ihrer Seele manifestiert, explodiert Berouls Brustkorb und es ist um ihn geschehen.

Bild 5, Hellblazer – All His Engines (Carey, Manco 2005)

Am Ende versucht zwar auch noch Mictantecuhtli, Constantine über den Tisch zu ziehen, indem nun er Besitz vom Körper des Mädchens ergreift, aber Constantine treibt ihn über einen Bluff schnell wieder aus, auf reichlich abenteuerliche Weise: Er zündet eine Kordel mit einer geflochtenen Haarsträhne von Tricia an und überzeugt den Gott, dass das Mädchen stirbt, sobald die Strähne abgebrannt ist. Dieses Druckmittel reicht, den Totengott dauerhaft zu verjagen.

Bild 6, Hellblazer – All His Engines (Carey, Manco 2005)

Damit ist Carey in der Tat die „quintessenzielle“ Constantine-Story gelungen, wobei mit diesem Wortungetüm natürlich gemeint ist, dass Carey die Charakteristika von Figur und Serie mustergültig auf den Punkt gebracht hat.

An typischen Zutaten sind enthalten:

  •       die magisch begabte Kontaktperson, die Constantine während einer Seance entscheidende Hinweise gibt. Ganz der Hellblazer-Formel entsprechend, geht der Kontaktmann zum schaurigen Ende der Seance hin in Flammen auf (check)
  •       Kapitalismuskritik und die Tatsache, dass Dämonen die schlimmsten Kapitalisten sind – und vice versa die schlimmsten Kapitalisten Dämonen (eh klar) (check)
  •       John Constantine, wie er über Bluff und Intrige verfeindete Dämonen gegeneinander ausspielt (check)
  •       Constantine, wie er nach einer Niederlage säuft und randaliert (check)
  •       Soap-Opera-Elemente mit seinem Kumpel Chas (check)
  •       introspektive Lebensweisheiten (check)
  •       und natürlich reichlich gerauchte Kippen (check)

Constantine ist bei Carey ganz der Con-Man3, dessen Begabung vor allem darin liegt, Dämonen wie Menschen über den Tisch zu ziehen, dessen Absichten aber weniger selbstsüchtig sind, als die meisten glauben. Manchmal stellt sich dem Leser aber auch die Frage, ob nicht auch Mike Carey als Erzähler in gewisser Weise ein Con-Artist ist, der je nach Laune eine schnelle Auflösung in Form eines „hat tricks“ herbeizaubert, den John mal eben aus dem Ärmel schüttelt, dann aber wieder, oft ebenso unmotiviert, einfache Auflösungen verwehrt. In Careys Hellblazer-Welt kann alles zum Rettungsanker werden, das relativ offensichtliche Weihwasser ebenso wie ein Päckchen Salz oder eine Haarsträhne, und je nachdem, ob Carey die Spannung steigern möchte oder eine Auflösung herbeiführen, ist das rettende Mittel zufällig verfügbar bzw. wirksam, oder nicht.

In All His Engines ist Carey Constantine gegenüber sehr großzügig. Zwar wird John einmal nach Strich und Faden gerollt, aber das sind nur kleine Rückschläge, und die gehören zum Spiel dazu. Die meiste Zeit verhandelt er höchst souverän und blufft erfolgreich. Constantine behält in All His Engines die Zügel in der Hand. All His Engines ist damit ziemlich das Gegenteil von Careys Run in der offiziellen Hellblazer-Serie. In diesem Run entgleitet John beinahe von der ersten Episode an mehr und mehr die Oberhand, und eine persönliche Katastrophe mündet in die nächste, bis zur totalen Eskalation. Nichts davon in All His Engines, hier ist die Hauptfigur ganz bei sich und bewahrt stets den Überblick. Das geht zwar etwas zu Lasten der Spannung und lässt die Handlung tatsächlich wie einen Fernsehkrimi wirken, ist aber ein enormer Gewinn für Careys Hellblazer-Gesamtwerk, da hier ein gleichwertiger Gegenentwurf zu seiner Eskalationsgeschichte in der Heftserie geboten wird.

All His Engines ist eine beinahe gemütliche Geschichte, die einerseits als Fabel über Habsucht und Macht funktioniert, andererseits aber auch als Komplementärgeschichte zu Careys vierjährigem Hellblazer-Run, auf den ich demnächst noch einmal gesondert zu sprechen komme. Und als Zugabe ist All His Engines schon fast eine Komödie, denn der Interaktion zwischen John und seinem Kumpel Chas wird weitaus mehr Raum geboten als sonst. Ein Fan im Internet hat All His Engines gar als Sitcom-Variante von Hellblazer bezeichnet. Ich stellte mir beim Lesen eingeblendete Lacher vor und tatsächlich: Auch auf dieser Ebene funktioniert All His Engines. Damit ist das kleine Buch tatsächlich für Fans ein größeres Schmankerl als für Neueinsteiger.

Bild 7, Hellblazer – All His Engines (Carey, Manco 2005)

Den tatsächlichen quintessential Hellblazer“ hat aber natürlich Neil Gaiman selbst geschrieben, und das weiß Gaiman wohl auch, aber er ist natürlich zu bescheiden, das zuzugeben. Alle von Gaiman geschriebenen Hellblazer-Geschichten arbeiteten die Figur scharf heraus, sei es Johns Rolle in der Miniserie Books of Magic, die als Blaupause für die New-52-Ära dienen dürfte, Johns Gastauftritt in Sandman (Heft Nr. 3), in dem John gleich mit mehreren seiner Schuldkomplexen konfrontiert wird, oder die herausragende Hellblazer-Episode „Hold me“ (Heft 27), die einen sehr empathischen John zeigt, dessen Mitgefühl vor allem den Schwächsten der Gesellschaft gilt. Gaiman hat früh erkannt, wie Constantine zu schreiben ist, und Carey, der ja schon mit der Reihe Lucifer eine Figur von Gaiman geschrieben hat, ist ein kongenialer Nachfolger, der dennoch einen ganz individuellen Zugang zu den Figuren hat. Und alles, was der Mann schreibt, ist lesenswert.

 



1 Einfach mal die amerikanischen Ausgaben mit den Ausgaben von Panini vergleichen. Der Unterschied ist krass.

2 Etwa: „Mike Carey hat die definitive Constantine-Story geschrieben. Wer immer auch verstehen will, warum alle so begeistert sind, sollte dieses Buch lesen.“

3 Die Silbe „con“ leitet sich von dem Wort „confidence“ (Vertrauen) ab. Der „con artist“ erwirbt zunächst das Vertrauen der Menschen, um es später missbrauchen zu können.

 

 

Zu Teil 1: Die Anfänge in Swamp Thing

Zu Teil 2: Die ersten Hellblazer-Hefte von Jamie Delano

Zu Teil 3: Die Garth-Ennis-Jahre

Zu Teil 4: Die Paul-Jenkins-Jahre

Zu Teil 5: Hellblazer 1998 bis 2001