Rezensionen

Zweite Generation

Cover Zweite Generation1988 ereignete sich in Michel Kichkas Leben eine Familientragödie, als sich sein kleiner Bruder Charly im Alter von knapp 30 Jahren das Leben nahm. Ein Freund tröstete ihn und meinte, Charly sei „noch ein Opfer der Shoah“. Er spielt damit auf das Syndrom der zweiten Generation an: Das Trauma der Überlebenden der Shoah wurde demnach an die Kinder weitervererbt, was einer sekundären Traumatisierung nahekommt. Charly ist an dieser familiären Last zerbrochen.

Michel Kichkas Eltern waren Opfer der Judenverfolgung in Nazideutschland; der Vater, Henri Kichka, war in Auschwitz und hat dort Ungeheuerliches erlebt, die Mutter Lucia konnte der Deportation durch die Flucht ihrer Familie in die Schweiz entgehen. Der Mutter war es Zeit ihres Lebens unangenehm, weniger gelitten zu haben als der Vater.

Henri Kichka etablierte sich nach dem Krieg als Zeitzeuge für das ehemalige Lager Auschwitz und schrieb eine vielbeachtete Monografie, gegenüber seiner Familie jedoch blieb er sonderbar und schwierig. Unter den Nazis musste er Schmerzen und Krankheiten unterdrücken, was ihn in seinem weiteren Leben zu einem Nörgler und Querulanten werden ließ – nie wieder wollte er sich den Mund verbieten lassen. Ihm wurde die Möglichkeit genommen, seine Begabung an der Schule auszuleben, deshalb mussten seine Kinder stellvertretend für ihn gute Leistungen erbringen und Karriere machen.

Seite aus Zweite GenerationEmpathie bei kleineren Verletzungen und ähnlichen Unannehmlichkeiten konnten die Kinder jedenfalls kaum einfordern, denn was waren ihre Wehwehchen schon gegenüber jemandem, der die Todesmärsche überlebt hatte? Wahrscheinlich wusste der Vater selbst, welche Bürde er seinen Kindern auferlegt hatte und schickte sie daher ins Internat, dennoch hing das jüdische Trauma gleich einer schwarzen Wolke über jedem der vier Kichka-Kinder und prägte auch deren Leben.

Michel Kichka hat diese Lebenserfahrung nun in Form eines Comicromans aufgezeichnet. Ursprünglich wollte er warten, bis der Vater gestorben wäre, um ihn nicht zu kränken. Eine Freundin jedoch riet ihm im Gegenteil, es rechtzeitig zu zeichnen, damit der Vater es noch lesen könne. Das ist ihm geglückt: Henri Kichka wird demnächst 90 Jahre alt. Der Comic hat dem Verhältnis zwischen den beiden gutgetan.

Die Monströsität von Art Spiegelmans Maus, dem wohl nach wie vor wichtigsten und besten Comic über die Shoah, sucht man in Die Zweite Generation vergeblich, auch wenn Michel Kichka immer wieder eindringliche Bildkompositionen gelingen. Michel Kichka zeichnet in einem weitaus gefälligeren Stil, der einen spontan an Émile Bravo erinnert. Das entspricht durchaus dem Inhalt, denn während Art Spiegelman den Horror der Lager so direkt und unmittelbar wie möglich evoziert, bleibt Michel Kichka stets nah an seinem ganz persönlichen Erfahrungshorizont und vermeidet es, zu tief in den Abgrund hineinzusehen. Die paar Mal, wo er dennoch das Grauen abzubilden versucht, wirkt dieses dann auch auf befremdliche Weise niedlich; aber so ist das eben, wenn man die Judenvernichtung im Stil eines Semi-Funnies abbildet. Der Aufrichtigkeit der Darstellung tut dies allerdings keinen Abbruch.

 

Wertung: 10 von 10 Punkten

Aufrichtige Darstellung eines unbequemen Themas, sehr ansprechend umgesetzt.

 

Zweite Generation. Was ich meinem Vater nie gesagt habe
Egmont Graphic Novel, April 2014
Text und Zeichnungen: Michel Kichka
Übersetzung: Ulrich Pröfrock
112 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 19,99 Euro
ISBN: 978-3770455058
Leseprobe

Jetzt bei amazon.de anschauen und bestellen!

Abbildungen: © der dt. Ausgabe: Egmont Verlag