Warum sich einen komplizierten Titel ausdenken, wenn es doch ganz einfach geht? Comics von Charles Burns sind ja gemeinhin überhaupt nicht leicht zu verstehen. Das lässt die schlichte Bezeichnung seines neuen Werkes, X, fast schon ironisch wirken.
Bereits sein opus magnum Black Hole (Reprodukt) war geprägt von albtraumhaften Teenagerängsten, in X entsendet er den Jugendlichen Doug in eine von einer ungeklärten Kopfverletzung verursachten Tour de force aus Erinnerungen und Wahnvorstellungen. Durch ein Loch in der Wand in seinem Schlafzimmer gelangt er in eine (scheinbar) orientalische Stadt, die von unbekannten Wesen bevölkert ist. Ein Kleinwüchsiger lädt ihn zu einem gemeinsamen Mahl ein, Zyklopen mit Mundschutz bereiten eines der omnipräsenten, rotgescheckten Rieseneier zu, bezahlt wird mit einer Zigarette.
Charles Burns‘ X sieht nicht nur auf dem Cover aus wie ein Album von Tim & Struppi, auch im Comic selbst ist eine der beiden Ebenen dadurch gekennzeichnet, dass Doug im Ligne-Claire-Stil gezeichnet ist. Sein Gesicht ist dann aufs wesentliche reduziert, die Augen werden zu kleinen schwarzen Punkten, die Haare zu einer einzigen schmalen Tolle und der Verband an der Außenseite seines Kopfes zu zwei dürftigen Pflastern (die, vom Autor beabsichtigt oder nicht, ein X bilden).
Diese bizarre Ebene entschwindet jedoch immer wieder und zum Vorschein kommt eine zweite Ebene, die aus Erinnerungsfetzen zu bestehen scheint. Burns zeichnet seine Hauptfigur nun wesentlich realistischer und passt sie seinem gewohnten Stil an. Bestimmte Merkmale tauchen in abgewandelter Form in beiden Welten auf, damit verschwimmt die Grenze zwischen ihnen und man gewinnt den Eindruck, dass Doug ein Trauma (oder gar sein gesamtes bisheriges Leben) bedeutungsvoll verarbeitet.
Was mag dahinterstecken? Für Interpretationen gibt es genügend Spielraum. Wer die Werke von Charles Burns kennt, weiß, dass seine Stories vor Symbolik nur so strotzen. Vielleicht kommt aber auch etwas mehr Licht ins Dunkel, wenn man den demnächst erscheinenden Nachfolgeband Die Kolonie gelesen hat.
Wertung:
Verstörender Trip, der die Grenze der Realität auslotet
X
Reprodukt, Februar 2012
Text und Zeichnungen: Charles Burns
Übersetzung: Heinrich Anders
56 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 18 Euro
ISBN: 978-3-941099-93-7
Leseprobe
Abbildungen: © der dt. Ausgabe: Reprodukt