Rezensionen

The Surrogates

thesurrogates.jpgDer Wecker reißt dich an einem dunklen, nasskalten Arbeitstag früh morgens aus dem Schlaf, du wälzt dich aus dem Bett, schlurfst gähnend in die Küche, um dir ein heißes Getränk zu machen. Dann lässt du dich damit in einem bequemen Sessel nieder, kuschelst dich in eine Wolldecke, während der Regen ans Fenster prasselt, und setzt ein Headset auf. Weiter musst du nicht. Zur Arbeit geht nämlich dein Surrogat, eine perfekte technische Kopie. Die physische Idealausgabe von dir, die nicht müde oder krank wird, deren Muskeln nicht erschlaffen und deren Bauchumfang nie wächst. Und du steuerst diesen Fleisch gewordenen (bzw. fleischlich wirkenden) Avatar mittels deiner Gedanken, erlebst die Welt durch seine Augen und Ohren. Als ob du dabei wärst – und irgendwie bist du es ja auch. Nur ersparst du dir all die Unanehmlichkeiten des Alltags … Klingt verlockend, nicht wahr? Genaus dies ist die Grundlage für das Zukunftsszenario, das Autor Robert Venditti ersonnen hat. Im Jahr 2054 hat man es mit einem real gewordenen Second Life zu tun, die Menschen ahlen sich in ihren gemütlichen vier Wänden und lassen ihre Surrogaten die Drecksarbeit machen.

thesurrogates1.jpgDie somit entstandene Gesellschaft hat durchaus utopische Züge: Die Verbrechensrate ist stark zurückgegangen, mitunter lebensgefährdende Berufe wie Feuerwehrmann oder Polizist haben ihren Schrecken verloren und die Diskriminierung von Minderheiten ist kaum noch ein Thema – denn niemand ist verpflichtet, einen Surrogaten zu betreiben, der seinem wirklichen Aussehen, seiner Ethnizität, seinem Geschlecht oder Alter entspricht.

Doch bei genauerem Hinsehen ist nicht alles so rosig: Teilhaben an der neuen Lebensart kann natürlich nur, wer es sich finanziell leisten kann. Dann gibt es auch noch Menschen, welche die Surrogaten-Geschichte aus religiösen Prinzipien ablehnen. Darunter fallen die meisten Mitglieder der Dreads, eine Gruppe von Surrogaten-Gegnern, denen nach einem gewaltsamen Aufstand ein Reservat zugestanden wurde, wo sie nun unter der Führung des „Propheten“ auf göttliche Intervention gegen den Frevel warten. Und schließlich muss man akzeptieren, dass man in einer Welt das Scheins agiert, in der nie ganz klar ist, wer einem wirklich gegenübersteht. Letzteres macht vor allem Lieutenant Harvey Greer zu schaffen, der mit seinem Partner eine geheimnisvolle Mord- bzw. Zerstörungserie unter Surrogaten im urbanen Moloch von Central Georgia Metropolis aufklären muss. Der Polizeiveteran wittert schnell, dass hinter den Vorkommnissen mehr als mutwilliger Zerstörungswille steckt. Als sein eigener Surrogat bei den Ermittlungen geschrottet wird, wagt er sich persönlich auf die Straße, was ungeahnte Auswirkungen auf den Verlauf der Ereignisse hat.

Es ist eine schrecklich schöne neue Welt, die Venditti für die (zuerst als Einzelhefte erschienenen) fünf Kapitel seiner Geschichte entworfen hat, die nah genug an der Realität grenzt, um sich auf sie einzulassen. Dabei spielt auch der Hauptprotagonist eine nicht unwichtige Rolle: Harvey Greer ist eine schön runde Figur, auf den ersten Blick ein abgebrühter Cop, der jedoch durch die Eheprobleme mit seiner surrogaten-abhängigen Frau und seine stetig wachsenden Zweifel an sich und der Welt, in der er lebt, durch und durch menschlich und verletzlich wirkt.

thesurrogates2.jpgFür die grafische Umsetzung von The Surrogates hat man sich beim US-Verlag Top Shelf gegen einen sauber gestylten Zukunftslook entschieden und stattdessen mit Brett Weldele einen Künstler engagiert, der eher in der Tradition von Bill Sinkiewicz und Ashley Wood zeichnet (und nebenbei auch selbst tuscht und koloriert). Und die Paarung Venditti/Weldele funktioniert äußerst gut. So sind die teils skizzenhaft wirkenden und in überwiegend erdigen Farben kolorierten Bilder rauh und kantig und verleihen dem Science Fiction-Krimi eine schmutzige Noir-Atmosphäre. Weldeles Stil, seine gelungenen Seitenlayouts und atmosphärisch starken Bilder komplementieren Vendittis Skript hervorragend. Einen nicht unwichtigen Anteil an der gelungenen Kreation einer lebendigen Zukunftsvision haben auch die am Ende jedes Kapitels eingefügten und liebevoll detailliert ausgearbeiteten Dokumente wie eine Surrogaten-Werbebroschüre, Zeitungsartikel und gar ein wissenschaftlicher Aufsatz über „Möglichkeit und Erfüllung im Zeitalter des Surrogaten“.

Die Krimihandlung selbst ist nicht nobelpreisverdächtig, aber durchaus solide. Und natürlich bietet sie nur die erzählerische Grundlage für die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem menschlichen Selbst im Zeitalter der Technokratie, der Digitalisierung und des Jugendwahns. Und hier gelingt dem Autor der nicht einfache Balanceakt zwischen sozialkritischer Science Fiction in der Tradition von Bradbury oder Asimov und unterhaltsamer Mörderhatz. Dies ist um so beeindruckender, wenn man bedenkt, dass es sich bei The Surrogates um sein Erstlingswerk handelt.

Ein zweiter Band, der 15 Jahre vor der hier vorgestellten Handlung spielt, erschien in den USA vor einigen Monaten. Insgesamt sind fünf Surrogates-Bände geplant. Die mit Bruce Willis besetzte Verfilmung, die sich in der Handlung mitunter deutlich vom Comic unterscheidet, startet in Deutschland am 21.01.2010 (US-Website, Infos, Trailer und Rezension auf Filmstarts.de).

Unser Interview mit Robert Venditti und Brett Weldele (auf Deutsch und Englisch) vom Oktober 2009 findet Ihr hier.

The Surrogates
CrossCult, September 2009
Text: Robert Venditti
Zeichnungen: Brett Weldele
Hardcover, 208 Seiten, farbig; 26,- Euro
ISBN: 978-3-941248-3

Gelungener Balanceakt zwischen Noir-Krimi und sozialkritischer SF

 

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Abbildungen The Surrogates © Robert Venditti, Brett Weldele; der dt. Ausgabe Cross Cult