Die somit entstandene Gesellschaft hat durchaus utopische Züge: Die Verbrechensrate ist stark zurückgegangen, mitunter lebensgefährdende Berufe wie Feuerwehrmann oder Polizist haben ihren Schrecken verloren und die Diskriminierung von Minderheiten ist kaum noch ein Thema – denn niemand ist verpflichtet, einen Surrogaten zu betreiben, der seinem wirklichen Aussehen, seiner Ethnizität, seinem Geschlecht oder Alter entspricht.
Doch bei genauerem Hinsehen ist nicht alles so rosig: Teilhaben an der neuen Lebensart kann natürlich nur, wer es sich finanziell leisten kann. Dann gibt es auch noch Menschen, welche die Surrogaten-Geschichte aus religiösen Prinzipien ablehnen. Darunter fallen die meisten Mitglieder der Dreads, eine Gruppe von Surrogaten-Gegnern, denen nach einem gewaltsamen Aufstand ein Reservat zugestanden wurde, wo sie nun unter der Führung des „Propheten“ auf göttliche Intervention gegen den Frevel warten. Und schließlich muss man akzeptieren, dass man in einer Welt das Scheins agiert, in der nie ganz klar ist, wer einem wirklich gegenübersteht. Letzteres macht vor allem Lieutenant Harvey Greer zu schaffen, der mit seinem Partner eine geheimnisvolle Mord- bzw. Zerstörungserie unter Surrogaten im urbanen Moloch von Central Georgia Metropolis aufklären muss. Der Polizeiveteran wittert schnell, dass hinter den Vorkommnissen mehr als mutwilliger Zerstörungswille steckt. Als sein eigener Surrogat bei den Ermittlungen geschrottet wird, wagt er sich persönlich auf die Straße, was ungeahnte Auswirkungen auf den Verlauf der Ereignisse hat.
Es ist eine schrecklich schöne neue Welt, die Venditti für die (zuerst als Einzelhefte erschienenen) fünf Kapitel seiner Geschichte entworfen hat, die nah genug an der Realität grenzt, um sich auf sie einzulassen. Dabei spielt auch der Hauptprotagonist eine nicht unwichtige Rolle: Harvey Greer ist eine schön runde Figur, auf den ersten Blick ein abgebrühter Cop, der jedoch durch die Eheprobleme mit seiner surrogaten-abhängigen Frau und seine stetig wachsenden Zweifel an sich und der Welt, in der er lebt, durch und durch menschlich und verletzlich wirkt.
Für die grafische Umsetzung von The Surrogates hat man sich beim US-Verlag Top Shelf gegen einen sauber gestylten Zukunftslook entschieden und stattdessen mit Brett Weldele einen Künstler engagiert, der eher in der Tradition von Bill Sinkiewicz und Ashley Wood zeichnet (und nebenbei auch selbst tuscht und koloriert). Und die Paarung Venditti/Weldele funktioniert äußerst gut. So sind die teils skizzenhaft wirkenden und in überwiegend erdigen Farben kolorierten Bilder rauh und kantig und verleihen dem Science Fiction-Krimi eine schmutzige Noir-Atmosphäre. Weldeles Stil, seine gelungenen Seitenlayouts und atmosphärisch starken Bilder komplementieren Vendittis Skript hervorragend. Einen nicht unwichtigen Anteil an der gelungenen Kreation einer lebendigen Zukunftsvision haben auch die am Ende jedes Kapitels eingefügten und liebevoll detailliert ausgearbeiteten Dokumente wie eine Surrogaten-Werbebroschüre, Zeitungsartikel und gar ein wissenschaftlicher Aufsatz über „Möglichkeit und Erfüllung im Zeitalter des Surrogaten“.
Die Krimihandlung selbst ist nicht nobelpreisverdächtig, aber durchaus solide. Und natürlich bietet sie nur die erzählerische Grundlage für die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem menschlichen Selbst im Zeitalter der Technokratie, der Digitalisierung und des Jugendwahns. Und hier gelingt dem Autor der nicht einfache Balanceakt zwischen sozialkritischer Science Fiction in der Tradition von Bradbury oder Asimov und unterhaltsamer Mörderhatz. Dies ist um so beeindruckender, wenn man bedenkt, dass es sich bei The Surrogates um sein Erstlingswerk handelt.
Ein zweiter Band, der 15 Jahre vor der hier vorgestellten Handlung spielt, erschien in den USA vor einigen Monaten. Insgesamt sind fünf Surrogates-Bände geplant. Die mit Bruce Willis besetzte Verfilmung, die sich in der Handlung mitunter deutlich vom Comic unterscheidet, startet in Deutschland am 21.01.2010 (US-Website, Infos, Trailer und Rezension auf Filmstarts.de).
Unser Interview mit Robert Venditti und Brett Weldele (auf Deutsch und Englisch) vom Oktober 2009 findet Ihr hier.
The Surrogates
CrossCult, September 2009
Text: Robert Venditti
Zeichnungen: Brett Weldele
Hardcover, 208 Seiten, farbig; 26,- Euro
ISBN: 978-3-941248-3
Gelungener Balanceakt zwischen Noir-Krimi und sozialkritischer SF