Rezensionen

Reading Comics (US)

Reading Comics von Douglas WolkDer amerikanische Journalist Douglas Wolk dürfte den meisten deutschsprachigen Comic-Liebhabern kaum ein Begriff sein. Auch in Nordamerika ist Wolk dem Mainstream-Comicleser wohl eher ein Unbekannter, da seine Rezensionen nicht auf den szene-üblichen Webseiten veröffentlicht werden, sondern vielmehr in Publikationen wie der New York Times, dem Rolling Stones Magazin oder auf Salon.comerscheinen. Dort schreibt Wolk regelmäßig Beiträge zu den Themen Comics – und Jazz. Seine Rezensionen zeugen von einer genauen Kenntnis des Stoffes und belegen, dass Douglas Wolk kein eingestaubter Feuilletonist ist, der notgedrungen das Medium Comics rezensiert, weil dieses immer mehr zum „ernst zu nehmenden“ Kulturgut wird. Wolk arbeitete bereits als Jugendlicher in den 80er Jahren hinter der Kasse eines Comicladens und ist ein großer Fan, wodurch er immer wieder voller Begeisterung von Comics zu berichten weiß. Dennoch bringt er einen frischen Wind in das sonst recht übliche „die Story ist spannend/nicht spannend; die Zeichnungen gefallen/gefallen nicht“-Schema der gängigsten Seiten im Internet.

Offensichtlich möchte Wolk nicht nur etwas über einzelne Werke oder deren Schöpfer berichten, sondern auch etwas über das Medium an sich. Daher veröffentlichte er im Jahre 2007 ein Buch mit dem doppelsinnigen Titel „Reading Comics“. Leider ist das Buch bisher nur auf Englisch erschienen. Wolks Schreibstil ist zwar flüssig und klar, trotzdem sollte man als deutschsprachiger Leser bereits über gute Englischkenntnisse verfügen.

Das Buch ist in zwei Teile aufgeteilt: im ersten beschäftigt sich Wolk auf theoretischer Ebene mit dem Medium Comic, im zweiten Teil analysiert er eine beachtliche Reihe an Werken und Künstlern unter seinen zuvor genannten Gesichtspunkten.

Glaubt man dem Klappentext, so versteckt sich im ersten Teil des Buches eine comic-theoretische Abhandlung im Geiste Eisners oder McClouds. Dies ist aber nicht der Fall, wie Wolk bereits zu Beginn klarstellt. Er lässt sich erst gar nicht darauf ein, eine Definition von Comics zu finden oder bereits bestehende Definitionen weiter auszuführen. Er nimmt schlicht an, dass jeder Leser weiß, was mit Comics gemeint ist. Ähnlich pragmatisch verfährt Wolk im Rest seines Buches, ohne oberflächlich zu sein. Seine Thesen sind schlüssig argumentiert, so dass der Leser seinen Ausführungen immer folgen kann.

Theorie …

Dieser erste Teil des Buches ist dann auch keine Comictheorie an sich als vielmehr eine Analyse der vornehmlich nordamerikanischen Comicrezeption. Dabei zögert Wolk nicht, einigen akzeptierten und gängigen Standards zu widersprechen. So argumentiert er auf sehr überzeugende Weise, weswegen die Bezeichnung des „Golden Age“ für die Comics, die vor den 60er Jahren veröffentlicht worden sind, nicht korrekt und sogar schädlich für das Medium an sich sei. Ein Goldenes Zeitalter bezeichne eine Zeit der Blüte, des Aufschwungs, fast schon einen Idealzustand. Da wir Menschen aber immer gerne unsere eigene Zeit kritisch und skeptisch betrachten, lägen solche Goldenen Zeitalter meist in der weiten Vergangenheit. Dies wäre schon im alten Griechenland so, und so verhielte es sich auch bei der Comicleserschaft. Scheinbar. Zugegeben erscheinen dem heutigen Leser die Schöpfungen von Siegel, Shuster, Kane und anderen Pionieren des amerikanischen Comics titanenhaft. Betrachte man aber die gesellschaftliche Akzeptanz, die Verbreitung, die Qualität der Werke und die Freiheit der Künstler, so müsse man zu dem Schluss kommen, argumentiert Wolk, dass das Goldene Zeitalter der Comics in der Gegenwart liegt.
Immer wieder konfrontiert Wolk auf ähnliche Weise oft vorgebrachte Thesen – wie das Attribut „cinematic“ als Gütesiegel oder die scheinbare Tatsache, dass Kunstcomics bessere Comics seien – und wirft sie über den Haufen. Nebenbei führt er aber auch alternative Sichtweisen und Analysemöglichkeiten ein. Gerade seine Ausführungen über den Autoren-Comic (im Englischen auteur, abgeleitet vom Französischen) sind hilfreich, um eine Einteilung von Comics zu erreichen, die über eine einfache Mainstream-/Independent-Dichotomie hinausgeht.
Eine ganze Reihe von Fragen werden in Reading Comics beantwortet, die nicht auf das Medium beschränkt sind, sondern ganz allgemein auf jegliche Kunstform angewendet werden können: „Warum ist dem visuell Schönen mit Skepsis zu begegnen? Wieso sind Underground-Comics so hässlich, obwohl die Zeichner auch ‚besser‘ zeichnen können?“ Gerade bei solchen Themen ist der Erkenntnisgewinn für den Leser groß, da Wolk immer wieder sein fundiertes Wissen über Kunsttheorie, Ästhetik und Psychoanalyse unter Beweis stellt. Wolks spezielles Talent liegt allerdings darin, dies alles unterhaltsam und verständlich darzustellen. Nur stellenweise stockt der Lesefluss ein wenig; ironischerweise meist dann, wenn der Comicfan mit Wolk durchgeht und der Autor vom eigentlichen Thema abschweift, um sich in Details obskurer Comicserien zu verlieren.

… und Praxis

Der zweite Teil des Buches ist schließlich der Ort, an dem der Fanboy in Wolk erwacht, denn in ganzen 17 Kapiteln geht er ausführlich auf die verschiedensten Comics, Comiczeichner und -autoren ein. Wolk betont zu Beginn des zweiten Teils, dass die Auswahl einzig seinem persönlichen Interesse geschuldet ist. Die Auswahl reicht dabei vom Superheldencomic, Horrorcomic über Klassiker wie Watchmen und Love & Rockets zu den autobiographischen Meilensteinen Blankets und Maus. Nebenbei findet man auch noch eine ganze Reihe von in Mainstreamkreisen weniger bekannten Künstlern wie Chester Brown oder Kevin Huizenga.
Für einen Autor stellen wohl gerade die Klassiker ein Problem dar, da er sich hier die Frage gefallen lassen muss, was man Neues über ein Werk wie Watchmen äußern kann, dass eine Veröffentlichung in Buchform verdient hat. Wolk hat allerdings Einiges über Klassiker, Altmeister und neue Talente zu sagen. Selten findet man als Leser so informative und ausführliche Analysen von Comics wie hier. Wolk schreckt auch nicht davor zurück, Schwächen im Werk einiger Meister wie Will Eisner aufzuzeigen, der ja gerade in den USA fast schon zur unantastbaren Legende avanciert ist. Niemals bleibt er aber bei einem einfachen Benennen, sondern belegt auch immer seine Argumentation.

Der Autor trägt dadurch zu einem gesünderen Verhältnis zum Medium Comic bei, da eine Sakralisierung bestimmter Künstler eher einer Mumifizierung gleicht, die letztendlich die Auseinandersetzung mit dem Künstler zum Stillstand kommen lässt. Der Künstler und sein Werk werden dadurch uninteressant und banal.

War der erste Teil des Buches lehrreich, so macht der zweite Teil vor allem Lust auf Comics. Man möchte sofort zum Comichändler seines Vertrauens eilen und ihm einen glücklichen Tag bescheren, indem man den Laden leer kauft. „Reading Comics“ eröffnet dem Leser neue Betrachtungsweisen auf das Medium, lässt ihn alteingesessene Darstellungen neu überdenken und stellt ihm eine ganze Reihe neuer Werke vor. Während viele Comickünstler und -leser immer noch meinen, man müsse Comics als ernst zu nehmende Kunstform etablieren, hat Wolk diesen Punkt längst hinter sich gelassen. Seine Ausführungen leiden unter keinem Minderwertigkeitskomplex, sie sind erwachsen, fundiert, kritisch und konstruktiv. Das ist eine beeindruckende Leistung für ein einziges Buch, für die es 2008 den Eisner Award als best comics-related book erhielt, und es verdient höchste Beachtung. 


Blog von Douglas Wolk

Reading Comics: How Graphic Novels Work and What They Mean (US)
Da Capo Press, August 2007 (Hardcover)
Perseus Distribution, August 2008 (Taschenbuch)
Autor: Douglas Wolk
416 Seiten; 22,95 USD (Hardcover), 16,95 USD (Taschenbuch)
ISBN: 978-0306815096 (Hardcover), 978-0306816161 (Taschenbuch)

Fundierte, inspirierende Sekundärliteratur

Als Taschenbuch bestellen:
nlintX