Nach längerer Pause gibt es wieder mal eine Comicbesprechung von zwei Redakteuren in Dialogform. Benjamin und Thomas beschäftigen sich mit Post Mortem Blues, dem aktuellen Werk von Horus. Der sogenannte „Wort-Bild-Roman“ erzählt von einem Mädchen, dass eigentlich einen recht normalen Eindruck macht — dabei ist sie eigentlich schon tot.
Benjamin: Zu Beginn gleich mein Bekenntnis: Ich hab diesen Comic einfach nicht verstanden. Okay, die 16-jährige Diona bekommt am Anfang also die Diagnose gestellt, sie sei tot. In diesem festen Glauben befindet sie sich weiter unter den Lebenden. Aber wenn sie sich nur einredet, tot zu sein, quasi als Mittel zur Abgrenzung eines unzufriedenen Teenagerlebens (meine Interpretation), welche Bedeutung kommt dann ihren wirren Träumen zu und ist das letzte Kapitel überhaupt als für die Erzählung plausibel einzuordnen? Also mal ehrlich, Thomas, ohne zuviel von der Handlung zu verraten, was wollte Horus mit seinem neuesten Werk nun aussagen?
Thomas: Puuh, das kann ich auch nicht so recht beantworten. Wobei sich natürlich die Frage stellt, ob man einen Comic (oder einen Film, einen Roman oder sonstwas) immer eindeutig „verstehen“ muss und ob immer eine eindeutige Aussage erkennbar sein muss. Horus lässt in Post Mortem Blues eine ganze Menge offen, es bleibt viel Interpretationsspielraum für den Leser.
Für mich dient der Ausgangspunkt der Story („Ich bin tot, aber ich weile weiter unter den Lebenden“) vor allem als Metapher für das Sich-anders-fühlen eines Teenagers. Diona fühlt sich ausgegrenzt und grenzt sich selber aus. Ob das mit dem Tot-sein nun wörtlich gemeint ist oder nicht, ist eigentlich nicht so wichtig.
Denn davon abgesehen ist Post Mortem Blues eine recht geradlinige Geschichte von einem Teenage-Mädchen und ihrem Blick auf die Welt, der vor allem geprägt ist von Abscheu gegenüber den Gleichaltrigen, für die Shopping und Mode viel wichtiger sind, als z.B. Bücher. Diona findet dann ja auch einen Gleichgesinnten, mit dem sie sich halbwegs versteht.
Neben dieser klaren Ebene haben wir aber noch die Traumsequenzen. Und die geben dem Leser dann wirklich Rätsel auf.
Benjamin: Und genau diese Rätsel sind für mich dann auch Teil meines eigentlichen Kritikpunktes. Denn Horus packt einfach zu viel in ein eigentlich simples Teenagerdrama. Diona wird in Träumen von diversen Personen besucht, sie lernt dadurch deren Lebensablauf kennen, hauptsächlich bleibt ihr von diesen Menschen aber ein Mann namens Anton Pulmann im Gedächtnis. Aber wer ist er und welche Bedeutung nimmt er ein? Ist seine Existenz nur Einbildung oder ist er auf metaphorischer Ebene ein Teil von Diona selbst? Außerdem sinniert diese noch über gewisse „Freunde hinter der Wand“. Einiges bleibt ungeklärt, aber leider in dem Sinne, dass man gerade beim Lesen der letzten Seiten nur noch konfus zurückbleibt.
Aber apropos „zu viel in einen Band gepackt“: Hattest du auch das Gefühl, dass der Kontrast zwischen den pathetischen Textpassagen und den fast zu übercoolen Sprechblasen etwas zu ausgeprägt ist? Oftmals dachte ich mir, der Autor hat’s sprachlich einfach viel zu gut gemeint. Liegt vielleicht auch daran, dass Horus sich zuvor eher weniger mit dem jugendlichen Metier und der Gefühlswelt junger Menschen in seinen Comics auseinandersetzte, sondern zuletzt mit Wüstensöhne und Schiller historische Stoffe umsetzte.
Thomas: Auf jeden Fall verwendet Horus Sprache auf eine interessante Art und Weise. Es ist sicher kein Zufall, dass Post Mortem Blues auf dem Cover als „Wort-Bild-Roman“ bezeichnet wird. Horus wollte also wohl keinen „herkömmlichen“ Comic machen, er packt überdurchschnittlich viel Text zu seinen Bildern. Theoretisch spricht da überhaupt nichts dagegen. Es muss keine strikte Trennung zwischen Comic und Prosa geben, längere Textpassagen in einer grafischen Erzählung können durchaus sinnvoll sein (der einzige mir bekannte Comic, der dieses Mittel regelmäßig verwendet, ist Terry Moores Strangers in Paradise).
Bei Horus allerdings gibt es, wie du schon angedeutet hast, eine Schere zwischen den ausführlichen Textpassagen und den Dialogen in Sprechblasen. Erstere sind sehr literarisch, letztere in einer (ziemlich bemüht auf jugendlich getrimmten) Jugendsprache. Man will als Leser nicht recht glauben, dass es in beiden Fällen Diona sein soll, die da zu einem spricht.
Benjamin: Da geb ich dir völlig Recht, im Endeffekt ist der selbsternannte Wort-Bild-Roman ein interessanter Versuch, aber sprachlich ist mir das in beide genannten Richtungen zu dick aufgetragen, respektive, um deinen Terminus zu wiederholen, zu bemüht. Lustig übrigens, dass ich auch schon einen Vergleich mit Strangers in Paradise herbeiziehen wollte, allerdings weniger bezogen auf die Textpassagen, sondern um eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der jeweiligen Hauptperson anzumerken. Diona erinnert mich schon etwas an Katchoo aus SiP, ein freches, schlagfertiges, blondes Mädel eben. Aber qualitativ kann Post Mortem Blues mit der genialen US-Serie von Terry Moore leider nicht mithalten…
Thomas: Wobei das auch ein leicht hinkender Vergleich ist…
Positiv vermerken möchte ich, dass Post Mortem Blues durchaus seine Momente hat. Vor allem die Szenen, in denen Diona ihre Verachtung für die übliche klischeehafte Teenagerwelt zum Ausdruck bringt, blieben bei mir hängen.
Und zeichnerisch gibt es gar nichts zu meckern. Horus ist ein routinierter, professioneller Zeichner, den man sich ohne weiteres auch in einer französischen oder amerikanischen Produktion vorstellen könnte. Auch das Spiel mit schwarz und weiß beherrscht er sehr effektiv.
Benjamin: Ja, optisch ist der Comic solide, obgleich Horus‘ Zeichnungen aus meiner Sicht bei anderen Produktionen besser zur Geltung kamen. Besonders gut gelang tatsächlich die emotionale Ebene, z.B. immer dann, wenn Diona ihren „Todes-Zustand“ als Vorwand für ihre Verhaltensweisen hernimmt oder sie die Andersartigkeit zu ihren Altergenossen ins Extreme führt. Die Szenen, in denen sie einfach nachdenklich durch die Gegend läuft, sind auch sehr eindrucksvoll gestaltet.
Letztlich ist Post Mortem Blues für mich in der Gesamtwertung ein Werk mit guten bis sehr guten Einfällen, aber mit zuviel Verwirrungen und einem zu voll gepacktem Konzept. Horus brachte das verstörende Leben und die Gedankenwelt eines Teenagers aber durchaus gelungen zu Papier, alles was in diesem Comic über diesen Aspekt hinausgeht, bleibt bei mir weniger positiv in Erinnerung.
Thomas: Ich schließe mich deinem „gemischten“ Urteil an. Mir hat vor allem die formale Idee gefallen, an einigen Stellen deutlich mehr Text zu verwenden, als es bei Comics sonst üblich ist. Ein solches Experiment würde ich, bei passender Gelegenheit, gerne wieder mal sehen.
Post Mortem Blues. Ein Wort-Bild-Roman
Gringo Comics, Dezember 2006
Text und Zeichnungen: Horus
120Seiten, Paperback im A5-Format, schwarzweiß; 9,80 Euo
ISBN: 978-3-940047-00-7
Bildquelle: Gringo Comics