Rezensionen

Oliver Twist

Cover von Brockhaus Literaturcomics – Oliver TwistOliver Twist war Charles Dickens‘ zweiter Roman und ist mit Sicherheit sein bekanntester. Ab 1837 erschien der Roman in Fortsetzungen, 1838 kam die gebundene Erstausgabe in drei Bänden heraus. Charles Dickens dürfte mit diesem Werk den Nerv der damaligen Zeit getroffen haben, denn die sozialen Missstände waren zur Zeit der Frühindustrialisierung tatsächlich empörend und die Angst vor Armut in großen Teilen der Gesellschaft allgegenwärtig. Dickens war ein engagierter Autor. Immer wieder erzählte er Geschichten von Waisenkindern und Kindern aus ärmlichen Verhältnissen, die schon früh mit den Härten des Daseins während der Frühindustrialisierung konfrontiert werden und schutzlos der Willkür ihrer Vormünder ausgeliefert sind.

Der Roman Oliver Twist dürfte damals für einigen Diskussionsstoff in der Frage der Armenrechte gesorgt haben, denn grimmiger war das Leben in den Elendsvierteln davor nicht beschrieben worden. Dickens hat wohl als einer der ersten die so genannte Barmherzigkeit in den Waisen- und Armenhäusern als das dargestellt, was sie letztendlich war: eine Notlösung, ein Feigenblatt, durch das das vorherrschende System der Ungleichheit erst stabilisiert werden konnte. Oliver Twist ist in dieser Welt ein Waisenjunge, der sehr früh in die Mühlen des Armenhauses und der Kinderarbeit gerät. Bereits durch seine Bitte nach einem Nachschlag im Speisesaal des Armenhauses provoziert er einen Skandal; ganz sicher, so prophezeit man ihm, würde ihn seine fordernde Art an den Galgen bringen. Eine Ahnung von Anerkennung erhält Oliver erst beim Hehler Fagin, der eine Gruppe Kinder für sich stehlen lässt.

Bereits auf der ersten Diebestour wird Oliver Twist erwischt, erhält aber vor Gericht Unterstützung vom freundlichen Mr Brownlow, der die Unschuld des Jungen erkennt und ihn bei sich aufnimmt. Damit ist Olivers Leidensweg aber noch nicht zu Ende. Er gerät abermals in die Fänge von Fagin und dem brutalen Verbrecher Bill Sikes, die ihn weiterhin korrumpieren und einen Verbrecher aus ihm machen wollen. Der Roman endet mit einer wundersamen Fügung: Es stellt sich heraus, dass Oliver von vornehmer Herkunft ist und dass er von Anfang an das unschuldige Opfer seines verschlagenen Halbbruders Mr Monks war, der ihn um sein Erbe bringen wollte. Am Ende wird Oliver von Mr Brownlow adoptiert und muss sich – auch dank seiner Herkunft – um seine Zukunft keine Sorgen mehr machen.

Von dieser letzten wundersamen Wandlung ist in der Brockhaus-Comicfassung des Klassikers nicht viel übrig geblieben. Zwar wird Oliver Twist auch im Comic am Ende adoptiert, der Plot um den mysteriösen Mr Monks, der im Roman durchgängig präsent ist, fehlt dagegen völlig. Tatsächlich wurden der Monks-Plot und das Happy-End von der Literaturkritik oft als unrealistisch und kolportagehaft abgetan, jedoch steckt in dieser Konstruktion auch eine fiese Ironie – ist es schließlich nur wundersamer Fügung und einer irrwitzigen Ansammlung von Zufällen zu verdanken, dass Oliver überhaupt eine zweite Chance im Leben bekommt. Bitter sind die Zustände, wenn nur noch Wunder helfen können.

Beispielseite aus Brockhaus Literaturcomics – Oliver TwistLeider hat die Brockhaus-Comicversion auch sonst sehr viele Handlungselemente unterschlagen, die den Roman mit Leben füllen und ihn erst zum zeitlosen Klassiker werden ließen. Was man mit der Comicversion erhält, ist nicht mehr als ein Handlungsgerüst, das den Hauptplot um Oliver nacherzählt. Die interessanten Nebenfiguren werden so gut wie völlig ausgeblendet. Nun ist es nicht Anspruch dieses Comic-Projektes, das laut Comic-Report von der UNESCO gefördert wird, Comic-Adaptionen von Klassikern zu liefern, die der Vorlage ebenbürtig sind. Der Anspruch der Brockhaus-Adaptionen ist es, „Jugendliche ab 10 Jahren an das Lesen großer Meisterwerke” heranzuführen und mit „kompakten Plots einen Einstieg in das Original” zu bieten. Diesem Anliegen wird die Ausgabe durchaus gerecht, denn vor allem sehr junge Leser dürften dem Comic durchaus einen gewissen Unterhaltungswert abgewinnen können. Ärgerlich ist es für Comicfans trotzdem, denn auf diese Weise werden alte Vorurteile über Comics bekräftigt, die man schon lange widerlegt glaubte. Comics sind gemäß diesem Ansatz nur Lektüre zweiter Klasse, nicht in der Lage, der großen Literatur auch nur annähernd gerecht zu werden.

Nun wird wohl keine Adaption Charles Dickens‘ Roman ersetzen können, doch ist die Brockhaus-Version leider von besonderer Schlichtheit. Eine gute Adaption würde zumindest eigene Akzente setzen, zum Beispiel Illustrationen bieten, die die bloße Lektüre um die Dimension einer ausgeprägten Anschaulichkeit bereichern. Auf Details in der Handlung kann dann gerne verzichtet werden, wenn der ästhetische Gegenwert stimmt und Atmosphäre geboten wird. Eine Adaption wie die vorliegende Brockhaus-Version dagegen hinterlässt ein Gefühl der Leere und bleibt seelenlos. Damit wird die Gattung Comic auf das alte Vorurteil zurückgeworfen, nur „versimpelte Literatur” zu sein, wie Isabel Kreitz in einer Rede treffend formulierte, die erst kürzlich in der Comixene abgedruckt wurde. Gut möglich, dass die Produzenten des Comics genau dieses Comicverständnis haben.

Die Brockhaus-Literaturadaptionen werden vom Verlag ausdrücklich für den Einsatz an Schulen empfohlen. Damit wird ein didaktisches Konzept weiterhin aufgegriffen, das sich modern und aufgeschlossen gibt und Comics im Unterricht integrieren möchte. Dennoch wird mit solchen Comicbeispielen am Ende die abgedroschene und angreifbare Schlussfolgerung stehen, dass Comics eben eher für triviale Inhalte geeignet sind. Das soll nicht heißen, dass man Lehrer nun auch noch zu Comicexperten machen sollte. Es wäre allerdings wünschenswert, wenn sie besseres Material an die Hand bekämen, denn dieser Literaturcomic kann durch eine kurze Inhaltszusammenfassung leicht ersetzt werden.

Der dokumentarische Teil des Albums, in dem einige Eckdaten um Charles Dickens und seine Zeit zusammengefasst werden, ist knapp gehalten, aber fundiert, informativ und schön bebildert. Durch ihn bekommt man eine Ahnung, was aus dem Comic hätte werden können. Schade, denn das Konzept einer Reihe von Literaturcomics ist an und für sich sehr ansprechend.

 

Wertung5 von 10 Punkten

Eine Literaturadaption für Kinder, die dem Roman nicht gerecht wird und kaum Interesse für den Stoff erzeugen dürfte. Der Anhang mit Informationen über Autor, Werk und Entstehungszeit überzeugt weit mehr als der tatsächliche Comic.

 

Brockhaus Literaturcomics: Charles Dickens – Oliver Twist
Brockhaus, September 2012
Text: Philippe Chanoinat
Zeichnungen: David Cerqueira

58 Seiten, farbig, Softcover
Preis: 12,95 Euro
ISBN: 978-3577074483
Leseprobe

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Abbildungen © Brockhaus