Rezensionen

Nextwave: Agents of H.A.T.E. Vol. 1 (US)

nextwave_cover.jpgFür unsere nächste Vier-Augen-Besprechung haben sich Björn und Thomas über einen eher ungewöhnlichen Titel aus dem Hause Marvel unterhalten. Mit Nextwave: Agents of H.A.T.E. (in Deutschland leider bisher nicht erschienen) hat Starautor Warren Ellis eine völlig überdrehte, actionlastige Superhelden-Parodie geschaffen. Die erste Hälfte der 12-teiligen Maxiserie ist als Trade Paperback erhältlich.

Thomas: „Action! Excitement! Explosions!“ schreit der Klappentext. Wie Recht er hat! Autor Warren Ellis hat mit seiner Marvel-Serie Nextwave ein Statement abgegeben: Lasst mich einen Superheldencomic schreiben, in dem es ordentlich rummst und kracht, in dem kein Wert auf Substanz oder tiefgehende Charaktere gelegt wird, dafür umso mehr auf Action und Humor. Nextwave hat nur einen Zweck: es soll Spaß machen. Und das ist Ellis verdammt gut gelungen, finde ich.

Björn: Definitiv, wobei ich das Zitat noch besser finde, mit dem Ellis den Comic bei Marvel beworben hat: „Healing America by beating people up.“ Ich bin zwar nicht Amerika, fühlte mich nach Nextwave aber trotzdem ziemlich gut. Seit Formerly Known as the Justice League hat mich glaube ich kein Superheldencomic so durchgängig zum lachen gebracht wie Nextwave. Das ist ein echt nettes Gegengift zu den endlosen Heul- und Jammerorgien in Civil War. Und in Anbetracht der Tatsache, dass „tiefgehende“ Charaktere bei Marvel derzeit heißt „Psychopathen, Soziopathen, Mörder, Jammerlappen“ bin ich sogar froh, dass die Figuren hier so oberflächlich bleiben. Überraschenderweise funktioniert der Comic damit ja trotzdem.

Thomas: Wobei der Humor ein anderer ist als bei der „lustigen Justice League“. Diese pflegt eher den Humor einer Sitcom, die meisten Gags liegen in den Dialogen. Nextwave arbeitet mit einem eher grellen Over-the-top-Humor: hier wird generell alles übertrieben, gnadenlos auf die Spitze getrieben und ins komplett Absurde übersteigert. Und vieles davon findet auf der visuellen Ebene statt, also direkt in den Zeichnungen. Bei den benutzten Waffen, zum Beispiel. Und Stuart Immonen ist dafür der perfekte Zeichner, finde ich.

 Björn: Yep, viele der Gags werden in den Zeichnungen festgehalten, etwa dass der Cyborg Aaron auch als übergroßes Schweizer Offiziersmesser fungiert, und da macht Immonen seinen Job sehr gut. Auch bei den ziemlich brachialen Actionszenen macht Immonen eine verdammt gute Figur. Was wichtig ist, immerhin geht es in den ersten beiden Stories um Jack Kirbys Fin Fang Foom und einen übergroßen Transformer: Da ist die ausgiebige Sachbeschädigung von Wohneigentum natürlich Pflicht.

Aber ich stimme dir nur bedingt bei deiner Sitcom-Einschätzung zu. Sicher, da wird viel über visuellen Humor gespielt, aber dabei solltest du nicht übersehen, wie viel Humor auch noch in den Dialogen vorhanden ist: Vor allem die Dialoge in denen Aaron über seine Kameraden herzieht sind oft pures Comedygold. Obwohl sie mich zum Teil etwas stark an Benders Monologe aus Futurama erinnern.

Ich denke, Formerly Known As The Justice League ähnelt eher den klassischen Sitcoms: Eine Schrecklich Nette Familie, Black Books, Fawlty Towers. Lacher vom Band und alles. In Nextwave borgt sich Warren Ellis sehr viele Elemente aus modernen Sitcoms wie Scrubs, Malcom Mittendrin oder Arrested Development.

Besonders die Sache mit den Cutaway Gags fällt da auf: Da hast du dann eine Szene, in der Photon erwähnt, dass ihr sowas nie passiert ist, als sie noch bei den Avengers war, und im nächsten Panel siehst du, dass ihr tatsächlich noch viel schlimmeres passiert ist, als sie bei den Avengers war. Aber nur für ein Panel, danach geht es sofort mit der Haupthandlung weiter. Oder die Frage, wie dumm der Captain eigentlich ist, führt dazu, dass man kurz die – eher peinliche – Orgin des Captains erzählt und dann auch sofort zur eigentlichen Handlung zurückkehrt. Genau diese Technik hat sich auch bei den eben genannten modernen Sitcoms inzwischen als Standard etabliert.

 Thomas: Stimmt, bei meinem Vergleich oben hatte ich auch die klassischen Sitcoms im Kopf. Die mit den Wohnzimmersofas in der Mitte. Aber lass mich nochmal kurz zurück zu den Zeichnungen kommen. Ich staunte nicht schlecht, als ich las, dass dies der gleiche Stuart Immonen ist, der auch Kurt Busieks Superman-Miniserie Secret Identity gezeichnet hat. Wow, der Typ ist wirklich variabel. Für Nextwave verwendet er einen an Zeichentrickfilmen orientierten Stil, der in den Actionszenen sehr dynamisch rüberkommt und auch perfekt zur Naivität der Geschichte passt. Zudem ist Immonen ein erstklassiger Designer und Illustrator: Seine Cover zu den Einzelheften sind großartig.

Björn: Dazu kann ich jetzt wirklich nichts sagen, weil mir der Vergleich fehlt. Immonen kenne ich zwar vom Namen her, habe aber bisher keinen anderen Comic gelesen, bei dem er als Zeichner unterwegs war. Ich kann da nur seine Arbeit in den ersten sechs Ausgaben von Nextwave beurteilen und da würde ich dir voll zustimmen. Ich würde auch sagen, dass der Zeichentrickstil gut zur Überzogenheit der Geschichte passt. Aber: „Naivität der Geschichte“? Mein Wörterbuch definiert „naiv“ als „arglos, kindisch, unwissend“. Das sind drei Adjektive, die ich nicht für das verwenden würde, was Ellis hier vorgelegt hat.

Thomas: “Naiv“ ist wohl wirklich der falsche Ausdruck. Ich meinte eher sowas wie „bewusst simpel“ oder „absichtlich plakativ und oberflächlich“. Wenns nicht so dämlich klänge, könnte man auch sagen: „comichaft“. Wie auch immer, Nextwave ist ein Action-Spaß-Popcorn-Comic in seiner reinsten Form. Und gleichzeitig natürlich eine Parodie auf das Genre Superheldencomic. Die dümmste Figur der Geschichte ist Dirk Anger, der Chef der Terrorbekämpfungstruppe H.A.T.E., ein cholerischer Irrer, der unschwer als Variation des S.H.I.E.L.D.-Bosses Nick Fury zu erkennen ist. Und die Nextwave-Helden retten zwar den Tag, kommen aber auch nicht besonders sympathisch oder ehrenwert rüber, sondern eher als ziemlich kaputte Typen. Vielleicht lieg's daran, dass die Serie bei den klassischen Superheldenfans kein großer Verkaufserfolg war. Zumindest was die Einzelhefte angeht.

 Björn: Sag „comichaft“. Das macht einen großen Teil des Charmes von Nextwave aus, zumindest für mich. Ellis verpasst dem Leser hier eine echt schöne Melange an typischen Ellis-Dialogen, postmodernen Albernheiten (einer von Kirbys stoischen Celestials macht das Loser-L) und bitterster Verarsche von Dingen, die Marvel heilig sind. Ich bin teilweise schon überrascht, was die Redakteure Ellis da durchgehen lassen. Immerhin benutzt er hier keine Stellvertreter-Charaktere, sondern die Marvel-Originale. Mit Ausnahme von Dirk Anger. Aber der Mann ist so jenseits von Gut und Böse, dass ich verstehe, warum Marvel da nicht den echten Nick Fury sehen wollte. Anyway, zu all dem kommt dann noch etwas, das viele Comicnerds noch immer schätzen: Total überzogene Action, die so in fast keinem anderen Medium funktioniert, die aber in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr hinter den neuen Realismus zurückgetreten ist.

Cyborgsamurais? Killerkoalas? Mörderkrabben mit Raketenantrieb? Superhelden gegen Riesenroboter? Explosionen? F*@% Yeah! Das schöne dabei ist, dass die total überzogene Action nicht von den parodistischen oder zynischen Elementen ertränkt wird. Und in der Form macht Nextwave einfach einen Heidenspaß. Hatten wir das Titellied schon erwähnt? Das passt nämlich auch verdammt gut zu der Serie, weil es diesen Over-the-Top-Aspekt noch deutlicher hervorhebt. (It's like Shakespeare, but with much more punching.)

Thomas: Herrlich. Nicht nur im Text, sondern auch musikalisch. Eine postmoderne Irrsinns-Variante der üblichen Titelmelodien von Samstagvormittags-Trickserien. Hier geht's zum MP3-Download bei marvel.com!

Björn: Aber ich verstehe ehrlich gesagt nicht, warum die Hefte nicht so ziehen: Ich bin eigentlich ein absoluter Verfechter des Paperbacks. Ich kaufe vielleicht alle paar Monate mal ein Einzelheft und sonst kaufe ich nur Trades, weil ich die in jeder Hinsicht vorteilhafter finde. Aber bei Nextwave hatte ich erstmals seit langem das Gefühl, dass das eine Serie ist, die fürs Heftformat geschrieben wurde, nicht fürs Paperback. Diese Kurz-Arcs (drei Ecken, ein Elfer und zwei Hefte, eine Geschichte) sind eindeutig für den Heftchenmarkt gedacht. Auch der Verzicht auf eine echte, langfristige Charakterentwicklung oder eine größere Continuity. Du hast vier Hefte verpasst? Kein Problem, du kannst sofort wieder einsteigen. Selbst wenn du die erste Hälfte einer Story verpasst hast, weißt du, worum es geht: Nextwave bekämpft… irgendwas. That's all folks. In der Hinsicht ist Nextwave dann wieder extrem Retro.

Nur hatte ich – beim Paperback – halt das Gefühl, dass das zuviel Wahnsinn in zu kurzer Zeit war. Einzeln hätte ich die Geschichten wahrscheinlich besser gefunden als drei in zwei Stunden. Ist ein bisschen wie mit den Marvel-Essential-Bänden. Wenn du zuviel am Stück liest, verlierst du die Freude daran. War das bei dir anders?

Thomas: Jein. Der Sammelband hat bei mir noch nicht zu Ermüdungserscheinungen geführt, dazu war er einfach zu unterhaltsam. Aber umgekehrt hast du völlig recht: Während heute viele Serien als Einzelhefte praktisch unlesbar sind, weil sie immer nur ein Kapitel eines größeren Ganzen sind, funktioniert Nextwave sicher auch ganz prächtig als Heftchen. Der Grund für die mauen Verkaufszahlen liegt wohl eher woanders. Kritiker Paul O'Brien meint dazu :

The problem with this book is that it's aimed at the sort of people who enjoy laughing at (or at least with) the excesses of the superhero genre, but also have a thorough enough knowledge to get jokes about Forbush-Man. That's really quite a narrow audience, and the book's modest sales don't surprise me.

Ich kenne zwar Forbush-Man nicht, aber im Grunde gebe ich Paul O'Brien recht. Man muss Superheldencomics kennen und auch ein bisschen mögen, um Nextwave zu mögen. Wer aber ein absoluter Superhelden-Fanboy ist, dem gefällt es natürlich nicht, wenn man sich drüber lustig macht.

Nun gut, dann gehören wir beide eben zu dieser schmalen Gruppe, die Spaß an solchen Dingen hat. Ob Nextwave je auf deutsch erscheinen wird, wage ich aus genau diesem Grund zu bezweifeln. Da Nextwave aber nicht gerade dialoglastig ist, muss man kein Doktor der Anglistik sein, um das Original zu verstehen.

Björn: Forbush Man war das Marvel-Maskottchen der „Not Brand Echh“-Serie. Was sowas wie der Vorläufer der „What the…“-Serie war. War so ein Kerl mit Nachttopf oder ähnlichem auf Kopf und 'nem Strampelanzug, wie ihn Supergoof in den Lustigen Taschenbüchern getragen hat.

Und das wusste ich jetzt sogar ohne zu googlen. Soviel zur Nerdigkeit.

Nextwave: Agents of H.A.T.E. Vol. 1: This Is What They Want
Marvel Comics, Februar 2007
Text: Warren Ellis
Zeichnungen: Stuart Immonen
144Seiten, Paperback, farbig; 14,99 US-$
ISBN: 978-0785119098

Action-Spaß-Popcorn-Comic in seiner reinsten Form

Jetzt bei amazon.de anschauen und bestellen

Bildquelle: marvel.com