Rezensionen

Lost Girls

 Kunst trifft Pornographie. Einer der besten und berühmtesten Comicautoren trifft drei berühmte Mädchenfiguren der Weltliteratur. Autor trifft Zeichnerin (woraus später ein Ehepaar wird). Lost Girls ist definitiv eine ganz besondere Veröffentlichung. Grund genug, über dieses Werk nicht nur eine „ganz normale“ Besprechung zu schreiben, sondern etwas genauer darauf einzugehen.

Lost Girls – Ein Annäherungsversuch

Eigentlich muss man über Lost Girls nicht mehr viel sagen. Über keine Comic-Veröffentlichung dieses Jahres wurde bisher mehr geschrieben als über das „Kunst meets Porno“-Projekt von Alan Moore und seiner Ehefrau Melinda Gebbie. Das Thema sorgte in den letzten Wochen für soviel Aufmerksamkeit, dass in der deutschsprachigen Presse – von Spiegel über den Stern bis zur Bild-Zeitung – eine ungeheure Menge von Artikeln erschien – auch in vielen Blättern, die Comics in der Regel eher ignorieren.

Für alle, die wider Erwarten nicht wissen sollten, worum es geht: Der Comic spielt im Jahr 1913 in einem Hotel am Bodensee. Dort lernen sich drei Frauen kennen, die zu den berühmtesten Figuren aus der angloamerikanischen Kinderliteratur gehören: Alice (aus Lewis Carrolls Alice im Wunderland), Wendy (aus Peter Pan von James M. Barrie) und Dorothy (aus L. Frank Baums Zauberer von Oz). In dem Hotel herrscht eine äußerst freizügige, erotische Atmosphäre, so dass die drei Frauen (und andere Gäste) schnell beginnen, sich in sexuelle Abenteuer in allen denkbaren Variationen zu stürzen. Währenddessen und dazwischen erzählen sich Alice, Wendy und Dorothy gegenseitig ihre jeweilige (ebenfalls schwer sexuell aufgeladene) Herkunftsgeschichte.

Alan Moore ist kein Autor, der sich auf seinen Lorbeeren ausruht und einmal erprobte Rezepte und Strickmuster immer wieder aufs Neue abspult. Moore ist ein Neugieriger, der erforschen möchte, was – und mit welchen Mitteln – man im Comic erzählen kann. Und auf dem Gebiet der Pornographie sah er eine echte Lücke: „Warum nicht mal ein pornographisches Werk, das genauso wertvoll und schön ist, wie man es von jedem anderen Kunstwerk auch erwarten würde?“ (Alan Moore im Interview auf mania.com)
Als Zeichnerin für dieses Projekt fand er Melinda Gebbie, die ihre ersten Comics in den 70er Jahren im Magazin Wimmen's Comix veröffentlichte, einer feministischen Underground-Comix-Anthologie aus San Francisco. Gebbie lebt seit 1984 in England und lernte Alan Moore durch Vermittlung ihres Comic-Kollegen Neil Gaiman kennen. Moore und Gebbie planten zunächst nur eine kurze, achtseitige erotische Geschichte, die sich erst im Laufe der Zeit zu einem 240-Seiten-Epos auswuchs. Aus dem Kreativteam wurde recht bald ein Paar, und seit 2007 sind die beiden auch verheiratet.

Eine schwere Geburt

 Die Entstehung von Lost Girls zog sich über insgesamt 15 Jahre hin. Die Veröffentlichungsgeschichte des Comics ist ähnlich abenteuerlich wie bei Moores Jack-the-Ripper-Saga From Hell, die viermal ihren Verlag wechseln musste: Zunächst erschienen ab 1991 einzelne Kapitel von Lost Girls in der amerikanischen Comic-Anthologie Taboo (wo auch die ersten Kapitel von From Hell erschienen). Nach der Einstellung von Taboo veröffentlichte der Verlag Kitchen Sink Press 1995/96 zwei Alben mit den bis dahin erschienen sechs Kapiteln. Anstatt die Serie in dieser Form fortzuführen, beschlossen Moore und Gebbie, das Werk zunächst komplett abzuschließen und erst dann zu veröffentlichen. Kitchen Sink schloss 1999 seine Tore, so dass Lost Girls verschiedenen Verlagen angeboten wurde und letztlich bei Top Shelf Productions landete. Auch dort verzögerte sich die Veröffentlichung noch einmal um ein paar Jahre, und schließlich kam Lost Girls in den USA im Sommer 2006 auf den Markt: in einer luxuriösen, hochwertigen Aufmachung zum stolzen Preis von 75 Dollar. Zunächst durfte das Werk nur in den USA vertrieben werden, nicht aber in Moores Heimat Großbritannien: Das Londoner Great Ormond Street Hospital, das die Rechte an Peter Pan hält, legte Einspruch ein. Ende 2007, 70 Jahre nach James M. Barries Tod, lief jedoch das Copyright an Peter Pan aus, so dass Lost Girls inzwischen auch auf der Insel erhältlich ist. Die deutschen Rechte sicherte sich Cross Cult, wo der Comic vor einigen Wochen in der gleichen edlen Aufmachung erschien wie das Original: Für 75 Euro bekommt der Leser einen Pappschuber mit drei in Leinen gebundenen Hardcoverbänden.

Kein Porno wie jeder andere

Obwohl Alan Moore in verschiedenen Statements klar und deutlich sagt, dass er hier ganz gezielt Pornographie produzieren wollte, hebt sich Lost Girls ganz klar von dem ab, was man sich landläufig darunter vorstellt und ist weder Schmuddel- noch Hochglanzporno. Bereits die hochwertige Aufmachung, aber auch der Zeichenstil und die Erzählweise machen unmissverständlich klar, dass die sexuelle Erregung des Konsumenten hier nicht allein im Vordergrund steht. „Was wir bieten wollten, ist ein Stück Pornographie, das so künstlerisch, intelligent und schön ist, dass es einige der möglichen Schamgefühle bei den Käufern umschifft“, so Alan Moore im Interview mit der FAZ.

Lost Girls ist ein literarisches Spiel, mit einer ganz ähnlichen Ausgangsbasis wie Alan Moores League of Extraordinary Gentlemen – nur eben mit sehr viel mehr Sex. Hier wie dort nimmt Moore berühmte Figuren der Unterhaltungsliteratur aus dem späten 19. oder frühen 20. Jahrhundert, lässt sie aufeinandertreffen und gemeinsam etwas erleben. Während die Figuren in LOEG jedoch in ihrem angestammten Milieu bleiben (Action/Abenteuer/Fantasy), sieht es in Lost Girls ganz anders aus: Es sind Charaktere, die wir als junge Mädchen in Kinderbüchern kennengelernt haben und die wir jetzt plötzlich als Erwachsene bei sexuellen Ausschweifungen erleben. Jede der drei offenbart den anderen Geheimnisse aus ihrer Vergangenheit, was Moore Gelegenheit gibt, die Klassiker Peter Pan, Alice im Wunderland und Der Zauberer von Oz sexuell zu interpretieren. In Sigmund Freuds Traumdeutung gelten Träume vom Fliegen als Ausdruck sexueller Wünsche, „und in Peter Pan wird viel geflogen“, sagt Alan Moore (ebenfalls im FAZ-Interview). In Form von Flashbacks erzählen die drei Protagonistinnen von ihren ersten sexuellen Erfahrungen. Bei Wendy gab es intime Begegnungen mit Peter Pan, aber auch mit Captain Hook, bei Dorothy mit Löwe, Blechmann und Vogelscheuche und bei Alice mit der Herzkönigin. Moore und Gebbie nehmen also bekannte Figuren und Motive aus den Kinderbuchklassikern und interpretieren sie (porno)grafisch. Das allein wäre aber kaum sonderlich innovativ – schon in den Tijuana Bibles der 20er Jahre Jahre vögelten bekannte Comicfiguren oder Filmstars in Comicform miteinander. Und in den unzähligen Fanfiction-Archiven im Internet findet man massenhaft erotische und/oder pornografische Geschichten mit bekannten Charakteren. Ist Lost Girls also nichts weiter als Femslash? Im Grunde ja, aber ein sehr ambitioniertes Exemplar.

Vor dem Orgasmus kommt der Formalismus

 Auf der zeichnerischen Ebene bekommt jede der drei Hauptfiguren einen ganz eigenen Look. Je nachdem, welche von ihnen gerade aus ihrer Vergangenheit erzählt, wechseln Zeichenstil und Seitenlayout. Melinda Gebbie orientiert sich grafisch stark am Jugendstil, dessen Popularität zum Zeitpunkt der Handlung von Lost Girls auf dem Höhepunkt war. In anderen Abschnitten imitiert sie die Stile bekannter Künstler jener Epoche, z.B. Alfons Mucha, Egon Schiele oder Aubrey Beardsley. Die bunten, oft lieblichen Farben und der naive, manchmal fast kindliche Look der Bilder ergeben immer wieder starke Kontraste zu den abgebildeten sexuellen Aktivitäten.

Formal ist Lost Girls ein waschechter Alan Moore. Wie in den meisten seiner Comics umgibt er seine ausufernden Geschichten mit einem strengen Rahmen: Jedes der drei Bücher besteht aus jeweils zehn achtseitigen Kapiteln, die stets in sich geschlossen sind und fast immer einen symmetrischen Aufbau aufweisen. In den meisten Kapiteln schließt sich nach acht Seiten ein kleiner Kreis, man kehrt wieder zurück an den Ausgangspunkt, was sowohl inhaltlich als auch grafisch deutlich wird. Symmetrie vom ersten bis zum letzten Kapitel. Und Moore wäre nicht Moore, wenn er nicht auch hier wieder mit ganz speziellen Ausdrucksmitteln spielen würde, die es so nur im Comic gibt. Am deutlichsten wird das in den Kapiteln 4 und 5, bei denen die Hälfte der Seiten exakt identisch ist, nur mit anderen Dialogen. Zunächst verfolgt man ein Gespräch zwischen Alice und Dorothy, dann „spulen“ Moore und Gebbie praktisch zurück und erzählen im 5. Kapitel noch einmal das gleiche Geschehen, diesmal aus der Perspektive von Wendy und ihrem Mann.

Es ist nicht zuletzt dieser Formalismus, der Lost Girls zu mehr als irgendeinem Sex-Comic macht. Dazu kommen natürlich die zahlreichen Verweise, nicht nur auf die drei großen Kinderbücher, sondern auf den kulturellen und historische Hintergrund. Das erste Buch endet mit einem Besuch der Premiere von Strawinskis Ballett Le sacre du printemps, am Ende von Buch Zwei erfährt man im Hotel vom Attentat auf den österreich-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und Buch Drei endet schließlich damit, dass der Erste Weltkrieg hereinbricht. Die Hotelinsassen müssen fliehen, das freie und ungezügelte Leben endet jäh wie eine geplatzte Seifenblase.

Bis es soweit ist, bekommt der Leser zahlreiche Geschlechtsorgane in Aktion zu sehen, was spätestens im dritten Band auch ziemlich ermüdend sein kann. Irgendwann wirkt es allzu schematisch, wie sich Alice, Wendy und Dorothy immer wieder brav abwechselnd von früher erzählen und nebenbei immer neue Sex-Spielarten ausprobieren. Das hat dann durchaus auch mal Längen, zumal die Dialoge an manchen Stellen auch nicht viel intelligenter sind als bei üblichen Pornos. Vielleicht hätten etwas weniger als 240 Seiten auch gereicht. Nein, Lost Girls ist nicht Alan Moores bester Comic, und nicht jeder Alan-Moore-Fan muss ihn unbedingt gelesen haben.

Wer den hohen Kaufpreis nicht scheut und sich von deutlich dargestelltem Sex nicht abgestoßen fühlt, sollte trotzdem einen Blick riskieren. Lost Girls ist ein Comic, wie es ihn so kein zweites Mal gibt und schon dieses offensichtliche Anders-Sein ist Grund genug, sich damit zu befassen. Und wie bei allen größeren Werken von Alan Moore gilt: Es lohnt sich, diesen Comic mehr als einmal zu lesen! Das britische Webmagazin The First Post veröffentlichte übrigens im Frühjahr 2008 eine Auswahl von sechs Kapiteln aus Lost Girls in Form eines Webcomics (Achtung, dieser Link ist nicht fürs Büro geeignet!).

 

Lost Girls
Cross Cult
, Mai 2008
Text: Alan Moore
Zeichnungen: Melinda Gebbie
3 Hardcover-Bände im Schuber; farbig; 3x 112 Seiten; 75,00 Euro
ISBN: 978-3936480009

In jeder Hinsicht außergewöhnlich

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Bildquelle: www.cross-cult.de
Abbildungen © Melinda Gebbie, Alan Moore, Cross Cult