Rezensionen

Insel der Männer

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Mit 75 Jahren wird Antonio Angelicola, von seinen Freunden Ninella genannt, insel1von zwei jungen Filmschaffenden aufgesucht. Er soll ihnen seine Geschichte erzählen, denn Ninella ist einer der letzten Zeitzeugen der systematischen Deportation Homosexueller, die ab 1938 in Italien Realität war. Damals wurden circa 300 Italiener aufgrund ihrer Sexualität auf San Domino Tremiti, eine Insel im Süden, verbannt.

Das Schicksal der schwulen Männer zur Zeit der Regierung Mussolinis ist bis heute ein medial kaum behandeltes Thema. Der Comic Insel der Männer von Szenarist Luca de Santis und Zeichnerin Sara Colaone nähert sich diesem jetzt durch die Figur des Schneiders Antonio Angelicola, der symbolisch für alle verschleppten Homosexuellen steht. Im Dialog mit den Filmschaffenden lässt er die damaligen Geschehnisse Revue passieren.

Bei Antonios von Wachen flankierter Ankunft auf der Insel wird schnell klar, dass das Leben dort von relativer Freiheit geprägt ist. Die Zustände sind mit denen der KZ-Inhaftierungen der Nazis nicht ansatzweise vergleichbar, eher ähneln sie einem lockeren Strafvollzug. Doch der Schmerz über die Deportation sitzt tief bei Antonio. Das bekommen die beiden Filmemacher noch viele Jahrzehnte später vor Augen geführt, als die Erinnerungen und damit verbundenen seelischen Schmerzen bei ihrem Interviewpartner wieder zum Vorschein kommen. Sein Land, Italien, wollte ihn und alle anderen Schwulen verbannen, ins Exil schicken. Waren sie erstmal ausgestoßen, konnte gar weiterhin geleugnet werden, dass es homosexuelle Italiener überhaupt gibt (Mussolini selbst behauptete, dass es in Italien überhaupt nur „richtige Männer“ gäbe). An dieser perfiden Intention lässt sich ablesen, wie die Betroffenen sich gefühlt haben müssen beziehungsweise welche seelischen Nachwirkungen dieser Lebensabschnitt verursachte.

De Santis und Colaones duale Erzählweise folgt einem klassischen Unterbrechungsschema, bei dem die Zwischenkapitel gewissermaßen Rückblicke in die 1930er bzw. 1940er Jahre (die Zeit Angelicolas auf der Insel) darstellen. Das bringt den Vorteil mit sich, dass man als Leser Perspektiven aus zwei unterschiedlichen Zeitperioden präsentiert bekommt, wobei beide sich gegenseitig vom Erkenntnisgewinn her befruchten. Die im zeitlosen Ocker gehaltenen Bilder sind grob, wuchtig und kantig. Alles in allem hätte ich mir dennoch eine dezentere, detailiertere grafische Ausdrucksweise gewünscht, aber Sara Colaones Arbeit mag womöglich Geschmackssache sein.

Viel Lob muss man dem kreativen Duo in jedem Fall für seinen Mut aussprechen, ein derart vernachlässigtes Thema anzugehen. Zeitgeschichtlich lässt sich die Deportation Homosexueller als eine Randnotiz (für die Betroffenen war es natürlich mehr als das), als ein perfider Auswuchs des italienischen Faschismus bezeichnen. Umso dankbarer muss man dafür sein, dass auch dieser Aspekt (unabhängig von der Art des Mediums) eine weitere Aufbereitung findet.

Betrachtet man Insel der Männer als Comic an sich, stellt man fest, dass die Übersetzung der historischen Ereignisse in eine emotionale Geschichte dann aber doch nicht reibungslos funktionieren will: De Santis‘ Handlung emotionalisiert zwar oberflächlich, bleibt aber doch immer ein Stück unnahbar. Ein richtiges Gespür für das komplexe Gefühlsleben der Titelfigur bleibt außen vor. Da wirkt auch der Versuch durch einen der jungen Filmemacher, die Ninella interviewen, eine weitere Ebene einbauen zu wollen (ein ehemaliger Lehrer von ihm war schwul), arg bemüht.

insel2Eine gewisse Ambivalenz hinterließ bei mir in jedem Fall die im hinteren Teil des Bandes abgedruckte „Notwendige Anmerkung“ von Comicexperte Andreas C. Knigge. Sehr erfreulich ist ja, dass Knigge auf ausführliche Weise weiterführende Informationen zum zeitgeschichtlichen Kontext liefert. Nur die Art und Weise empfinde ich persönlich als unsachlich (was nicht als unseriös oder faktisch falsch verstanden werden soll): Das fängt bei der Kopfleiste an, bei der der Leser direkt mit dem Holzhammer (oder der moralischen Keule, wenn man so will) darauf gestoßen wird, dass die folgenden Ausführungen ja „notwendig“ seien, bevor Knigge dann ansetzt zur umfassenden Geschichtsstunde über die Verfolgung und Diskriminierung der Homosexuellen. Das funktioniert aber nur teilweise gut. Erstens, weil vieles von dem Gesagten nur marginal in den historischen Rahmen der Umstände fällt, die zu den in diesem Buch geschilderten Ereignissen führten; und weil zweitens der Verfasser sich zu viel vornimmt, wenn er dann irgendwann den Bogen krampfhaft ins Hier und Heute spannen will, indem er die Piusbruderschaft und Papst Benedikt zitiert. Dazu passt dann konsequenterweise auch, dass im vorletzten Absatz ein Sinnspruch Bertolt Brechts eingebracht und dem Leser am Schluss gar eine take-home-message mit auf den Weg gegeben wird (die innere Emigration sei ja, so Knigge, immerhin auch ein grausames Los).

Das soll die Wichtigkeit der Thematik und das Ansinnen des Autors nicht schmälern, aber vielleicht wäre in diesem Fall weniger mehr gewesen und man hätte die schriftstellerische Plastizität etwas zurückschrauben sollen. 

 

Wertung5 von 10 Punkten

Kein „notwendiges“ (wie im Nachwort behauptet), aber womöglich ein sehr wichtiges Comicbuch, da es den Fokus auf ein vernachlässigtes Thema lenkt

 

Insel der Männer
Schreiber & Leser, September 2010

Text: Luca de Santis
Zeichnungen: Sara Colaone
176 Seiten, zweifarbig, Hardcover
Preis: 18,80 Euro
ISBN:978-3-941239-47-0

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Abbildungen © Luca de Santis, der dt. Ausgabe: Schreiber & Leser