Rezensionen

Herr Lehmann

Cover Herr LehmannDas Leben des Herrn Lehmann ist die ideale Reaktion auf alle Probleme der modernen Welt. Ohne Ambitionen hat er im Westberlin der 1980er Jahre als allzeit bereiter Schankkellner eine persönliche Nische für sich entdeckt, die ihm ein unkompliziertes Überleben auf der Welt ermöglicht. Allerdings beginnt sein behaglicher Mikrokosmos ebenso wie die Berliner Mauer im Jahr 1989 zu bröckeln. Das Ende einer Welt kündigt sich an.

Jetzt liegt Sven Regeners Kultbuch von 2001 also auch als Comic vor. Schade, möchte man meinen, dass bei Eichborn mal wieder auf eine etablierte Marke gesetzt wird, statt etwas Neues aufzubauen. Andererseits ist es nachvollziehbar, dass man vom Wiedererkennungswert einer etablierten Figur profitieren möchte; und es ist immer interessant, zu beobachten, ob und wie die Übertragung in ein anderes Medium gelingt.

Seite aus Herr LehmannSven Regeners Roman zu adaptieren ist durchaus ein gewagtes Unternehmen, denn Regener, bzw. sein Alter Ego Herr Lehmann, haben eine starke Tendenz zum Laberflash (O-Ton Regener), einem unkontrollierten, schwer zu stoppendem Fluss von Information, der sich in der Regel selbst genügt und eher dem Spaß am Reden verpflichtet ist als der Vermittlung von Information. In der Tat hat die Comicadaption am Anfang etwas Probleme, auf Touren zu kommen, denn die Dialoge, die in Regeners Roman leichtfüßig fließen, wirken in den ersten Szenen noch etwas unbeholfen montiert. Aber das gibt sich schnell, je tiefer man sich in den Comic hineinliest.

Sven Regeners Wortwitz und Situationskomik bleiben weitgehend erhalten und Tim Dinter beweist einiges Talent für Kneipenszenen, ohne dem Leser nur talking Heads vorzusetzen. Positiv anzumerken ist außerdem, dass er viel Hirnschmalz für abwechslungsreiche Hintergründe und Perspektivwechsel verwendet hat, ohne den Lesefluss durch unnötige Details zu verstellen. Einmal in Fluss gekommen, läuft die Erzählmaschine ebenso rund wie Regeners unwiderstehliche Prosa. Die Typen sehen angemessen übernächtigt und ungesund aus, wie man es von Regeners Kneipentieren erwartet und die Unbekümmertheit, die Herrn Lehmann auszeichnet, ist adäquat übertragen. Schön ist auch Dinters Stilmittel, bei durchzechten Nächten auf klare Konturen zu verzichten und stattdessen mit verwaschener Lavierungsoptik zu arbeiten, was der Auflösung von Raum und Zeit, wie sie unter Alkoholeinfluss mitunter eintritt, optisch erstaunlich gut entspricht.

Seite aus Herr LehmannAls etwas störend empfinde ich lediglich die Art und Weise, wie der Text in die Bilder integriert wird. Das dünne Maschinenlettering mit großen weißen Zwischenflächen und die am Computer gesetzten Sprechblasen mögen sich nicht so recht ins analoge Ambiente der Berliner Kneipenszene fügen. Leider wird hier einmal mehr das Potenzial eines gescheiten Letterings verschenkt und der Text auf seinen reinen Informationsgehalt reduziert. Gerade bei den langen, ausufernden Dialogen, die Regeners Schreibstil charakterisieren, entstehen da bisweilen unästhetische Textwüsten, die in der gewählten Darstellungsweise unpassend steril wirken und die Adaption in diesen Szenen auf halbem Wege verhungern lassen. Überzeugend hingegen ist die Adaption immer dann, wenn Tim Dinter die visuelle Regie übernimmt und sich vom Textballast befreit. Gerade den Umgang mit Hell und Dunkel beherrscht Dinter perfekt, so dass die Unzulänglichkeiten an anderer Stelle schnell vergessen sind. Seine Stadtansichten begeistern ebenso wie die phantasievollen Interieurs.

 

Wertung: 8 von 10 Punkten

Ein Comic wie eine Postkarte aus der Vergangenheit: Gelungene Romanadaption für alle, die von Regeners Welten nicht genug bekommen können.

 

Herr Lehmann 
Eichborn Verlag, 2014
Text und Zeichnungen: Tim Dinter, nach dem Roman von Sven Regener
240 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 19,99 Euro
ISBN: 978-3847905813
Leseprobe

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Abbildungen: © Tim Dinter/Eichborn