Rezensionen

Gingerbread Girl (US)

Cover Gingerbread GirlSchonmal vom „Penfield Homunculus“ gehört? Der Neurochirurg Wilder Penfield visualisierte mit einer grotesk aussehenden menschlichen Gestalt die Anatomie des Gehirns – welche sensorischen Reize werden an welcher Stelle des Gehirns wahrgenommen und wie stark sind diese Empfindungen? Dieser Homunculus spielt eine zentrale Rolle in Gingerbread Girl.

So heißt der Comic vom Ehepaar Paul Tobin und Colleen Coover (Banana Sunday), der zunächst als Fortsetzungsgeschichte auf dem Webcomicportal von TopShelf Productions veröffentlicht wurde und nun beim selben Verlag als gebundenes Buch erschienen ist. Es geht um Annah, eine 27-jährige, lebenslustige junge Frau, die sich noch nicht entschieden hat, ob sie eher auf Männer oder auf Frauen steht und die für den Abend, an dem wir sie begleiten dürfen, gleich zwei Dates vereinbart hat: eins mit der lockenköpfigen Chili und eins mit Jerry, der aber das Nachsehen hat, weil er später eintrifft als Chili.

Seite aus Gingerbread GirlViel mehr äußere Handlung gibt es nicht: Ein Abend in Portland, Oregon, an dem zwei Frauen, die ein bisschen verliebt ineinander sind, gemeinsam ausgehen. Dieser Plot spielt aber kaum eine Rolle, vielmehr soll der Charakter der Hauptfigur Annah und ihre Besonderheit erforscht werden: Sie behauptet nämlich, dass ihr als Kind von ihrem Vater, einem Wissenschaftler, der Penfield Homunculus entfernt und als eigenständiges Wesen zum Leben erweckt wurde. Seitdem hat Annah eine Art Zwillingsschwester, die sie „Gingerbread Girl“, Lebkuchenmädchen, nennt. Wenn Annah etwas berührt oder berührt wird, fühlt sie kaum etwas, stattdessen kommen diese Empfindungen bei ihrer Schwester Ginger an. Diese ist allerdings seit Jahren verschwunden, genau wie Annahs Eltern. Es drängt sich also der Verdacht auf, dass Annah mächtig einen an der Klatsche hat.

Ist es ein Trauma, verursacht durch die Scheidung ihrer Eltern, ist es ein harmloses Hirngespinst oder ein schwerer psychischer Schaden, oder ist womöglich doch etwas wahres dran an Annahs Geschichte? Eine endgültige Antwort, soviel sei verraten, gibt der Comic nicht. Der Leser bekommt lediglich eine Menge Puzzlestücke angeboten, aus denen er sich sein eigenes Bild basteln muss. Dies geschieht in einer recht ungewöhnlichen Form, die den eigentlichen Reiz von Gingerbread Girl ausmacht: Der Leser wird nämlich fast durchgehend direkt angesprochen, zunächst von Annah selbst, später von Chili und weiteren Nebenfiguren, aber auch von gänzlich unbeteiligten Personen wie einem Wahrsager und sogar einer Taube und einer Bulldogge. Sie alle geben Informationshäppchen über Annah und ihre eigenartige Geschichte preis, geben Erinnerungen wider und stellen Vermutungen und Theorien auf. Niemand von ihnen weiß wirklich, was genau mit Annah los ist, aber am Ende hat man zumindest soviel Einblick in ihr Innenleben, um eigene Mutmaßungen anstellen zu können.

Seite aus Gingerbread GirlLeser, die eine endgültige Klärung aller offenen Fragen erwarten, werden von diesem Comic, der keine echte Lösung anbietet, enttäuscht sein. Man muss akzeptieren, nur Brotkrumen serviert zu bekommen. In einer Episode greift Chili zu einer passenden Metapher: Wirft man Tauben ein paar Brotkrumen hin, sind sie begeistert, mit einem ganzen Laib Brot dagegen können sie wenig anfangen. Und so ähnlich sei es auch bei unseren Mitmenschen: Wir können und wollen niemals alles von ihnen wissen, ein bisschen Rätselraten und Mysterium bleibt immer, und, so Chili, das sei auch gut so.

Paul Tobin und Colleen Coover gelingt es, diese Erforschung von Annah äußerst charmant und unterhaltsam zu gestalten. Der Kunstgriff, immer wieder die „vierte Wand“ zu durchbrechen, indem die Figuren direkt zum Leser sprechen, funktioniert. Dass sich dabei zahlreiche verschiedene Figuren, darunter auch Tiere, die Klinke in die Hand geben, sorgt für Abwechslung, und – ganz wichtig – den nötigen Schuss Humor. Gingerbread Girl soll nämlich Spaß machen, auch wenn sich hinter der Oberfläche das Psychogramm einer möglicherweise kranken Person verbirgt. Für die gutgelaunte Grundstimmung sorgen auch die charmanten, Cartoon-artigen Zeichnungen von Colleen Coover.

Wie ein Ermittler in einem Krimi setzt man all die bruchstückhaften Informationen zusammen, die aus so vielen verschiedenen Blickwinkeln stammen und schafft sich sein eigenes Bild. Und so beginnt man am Ende der Lektüre, Annah ins Herz zu schließen. Man würde gerne noch länger bei ihr verweilen und mehr über sie erfahren. Und wenn ein Buch so etwas erreicht, ist es gelungen.

 

Wertung8 von 10 Punkten

„Slice of Life“ trifft Psychologie: sehr charmantes Puzzlespiel zur Erforschung einer fiktiven Figur


Gingerbread Girl
Top Shelf Productions, Juni 2011
Text: Paul Tobin
Zeichnungen: Colleen Coover
112 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: 12,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-60309-080-3
Gingerbread Girl als Webcomic

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Abbildungen © Colleen Coover, Paul Tobin, TopShelf