In seinem äußerst gelungenen Vorwort weist der spanische Comickritiker Óscar Palmer darauf hin, dass Rotlichtviertel immer schon eine gewisse Faszination auf Künstler ausgeübt haben. Sie spielten oftmals mit dem Feuer, ließen sich in moralische Niederungen hinab und suhlten sich oft genüsslich im Elend. Dabei hatten sie immer die Möglichkeit, zu ihrem Ausgangspunkt zurückzukehren. Gabi Beltrán hatte diese nicht. Denn er wuchs mit seinen Freunden in einem solchen verrufenen Viertel auf. Und eine einzige Sache rettet ihn: die Liebe zum Comic. Schließlich wurde er selber ein in Spanien gefeierter Zeichner, aber die Zeichnungen zu seinen autobiografischen Geschichten aus dem Viertel überließ er lieber seinem Kollegen und Landsmann Bartolomé Seguí. Vielleicht gingen ihm die Erinnerungen zu nah.
Der junge Gabi wächst in den 1980ern auf Mallorca auf. Aber Palma de Mallorca ist noch längst nicht das Touristenparadies wie man es heute kennt, sondern hat auch sehr zwielichtige Ecken zu bieten. In einer davon wohnen Gabi und seine Freunde. Umgeben von Elend und Hoffnungslosigkeit versuchen sie ihren Weg zu finden, der sie möglichst weit von der Umgebung wegbringen soll. Das ist aber nicht so leicht. Schließlich ist es schwer, in einer Gegend Geld zu verdienen, wo viele arbeitslos sind. So verkaufen sie Zeitungen, begehen kleine Diebstähle oder machen Botengänge. Am liebsten verkuppeln sie aber Seeleute, die im Hafen anlanden, an Bordelle oder Restaurants. Was letztlich zum Zusammenhalt der Familie beiträgt, da nicht wenige Mütter von Freunden anschaffen gehen. Dieser Umstand macht es allerdings auch nicht leicht, seine eigene Unschuld zu verlieren.
Mit das Erstaunlichste an diesen Geschichten aus dem Viertel ist ihr Tonfall. Die hier erzählten Anekdoten und Episoden sind alle autobiographisch und drücken oft eine gewisse Wehmut aus. Eine Melancholie, die bei dem Gedanken an alte Bekannte und Freunde entsteht, was dafür spricht, dass man sie vermisst. Gleichzeitig macht Beltrán immer die Trostlosigkeit dieses Lebens deutlich und verherrlicht nicht. So eine Haltung kann schnell zum Gehabe eines Bohémiens führen: „Seht dieses Elend, aber ich fühle mich wohl darin und es hat seinen eigenen Charme.“ Nein, das hat es nicht.
Die Zeichnungen zeigen zwar kein Ghettobild mit Mülltonnen und menschlichen Wracks am Straßenrand, aber die Perspektivlosigkeit zieht sich durch jedes Bild. Segui verzichtet dabei auf knallige Effekte und Gewalt wird beispielsweise nie gezeigt. Es ist davon die Rede, ja, aber abgesehen von einer einzigen Szene steht sie nie im Mittelpunkt. Es geht viel eher um die psychischen Auswirkungen des Aufwachsens in einem solchen Viertel. Da merkt man als Leser deutlich die gegenseitigen Sympathien und erfreut sich an den Freundschaften der Figuren, obwohl man denen wahrscheinlich nicht gerne im Dunkeln begegnen würde. Die Melancholie bezieht sich dann auch nicht auf die Umgebung, sondern auf die Personen, die von der Trostlosigkeit und dem Mangel an Perspektiven zerstört wurden. Sie konnten nicht entrinnen und vielleicht fühlt Beltrán eine gewisse Schuld darüber, die mit Erleichterung gemischt ist. Es muss ihn geschmerzt haben, diese Geschichten zu erzählen.
Und die Tonlage spiegelt diesen Widerspruch der Gefühle sehr gut wieder. Man fühlt die Ausweglosigkeit, ist aber dennoch auf gewisse Weise fasziniert und es macht einen traurig, wenn man sieht, wie manche Kinder aufwachsen müssen. Und zwar nicht nur in Ländern der sogenannten Dritten Welt, sondern bei nahen Nachbarn wie Spanien, was so gar nicht zum Image des sonnigen Urlaubslandes, besonders nicht zu dem von Mallorca, passen will. Der leichte Strich von Seguí enthält sich großer Symbole und setzt stattdessen ganz auf das Lokalkolorit, wobei er auf jegliche Polarisierung verzichtet. Es wird nicht nur das Triste oder das Schöne gezeigt, sondern beides. Auch in verrufenen Vierteln gibt es schöne Gassen und der Weg zum erholsamen Strand ist nah. Idylle und Elend liegen nahe beieinander. Gerade dieses Unscheinbare des Viertels macht alles noch trostloser, bietet dem Leser aber hervorragende Projektionsflächen.
Wertung:
Einzigartige Autobiographie, die durch ihren Tonfall überrascht, der Trostlosigkeit mit Wehmut verknüpft.
Geschichten aus dem Viertel
Avant-Verlag, Februar 2013
Text und Kolorierung: Gabi Beltrán
Zeichnungen: Bartolomé Seguí
Übersetzung: André Höchemer
152 Seiten, farbig, Softcover
Preis: 19,95 Euro
ISBN: 978-3-939080-76-3
Leseprobe
Abbildungen: © der dt. Ausgabe: Avant-Verlag