Dichter Nebel hängt in den Bäumen, hüllt sie in ein trübes Graublau. Doch trotz der schlechten Sichtverhältnisse wagen sich die Männer aus New Fraternity immer weiter in den Wald hinein. Heute jagen sie kein Wild, heute jagen sie etwas Größeres. Ein Reh wurde angefallen, Hühner wurden von ihren Höfen gestohlen. Plötzlich haben die Hunde eine Witterung aufgenommen, die wilde Hatz beginnt und endet ebenso plötzlich. Die Männer fangen ihre Beute lebend – einen kleinen Jungen, der in der Wildnis aufgewachsen ist.
Juan Díaz Canales und José Luis Munuera schreiben und zeichnen das Jahr 1863. Handlungsort ist die kleine Stadt New Fraternity im noch jungen Bundesstaat Indiana. Das Thema des ersten von zwei Comicbänden ist klar verortet: Die Figur des Außenseiters steht im Zentrum der Handlung.
Der gefangene Wolfsjunge wird in die Stadt gebracht; seine Integration wird auf den nächsten Seiten vorangetrieben: Er trägt ihre Kleidung, wohnt bei ihnen. Doch warum sollte sich der kleine Junge an die Stadtbewohner anpassen, wenn die Gemeinde selbst so stolz auf ihre Rolle als Außenseiter ist? Als Projekt verstehe man sich, das noch unabhängiger sei als die USA selbst. Weder beteilige man sich am Bürgerkrieg, noch brauche man die Unterstützung der Regierung. Die Separatisten unter den Separatisten. Beide Projekte laufen parallel zueinander und die Erzählung funktioniert, aber leider nur auf den ersten zwanzig Seiten.
Canales scheint sich mit zwei funktionierenden Handlungssträngen nicht zufrieden geben zu wollen und beginnt damit, New Fraternity mit weiteren Plots vollzustopfen. Neben dem Wolfsjungen taucht der mysteriöse Minotaurus samt griechischer Mythologie als weiterer Außenseiter auf. Hinzu kommen weitere stereotype Plots: die Deserteure, der stolze Bürgerrechtler und die Intriganten, der Märchenprinz und natürlich auch die unerwiderte Liebe. Anstatt sich nebeneinander zu entwickeln, überlagern sich die Handlungsstränge: Die Deserteure sprengen das Volksfest, der Bürgerrechtler muss gleichzeitig unglücklich verliebt sein und der Minotaurus stellt sich als unnütze Doppelung des Außenseiter-Motivs dar – auch wenn Canales pflichtbewusst Labyrinth und Ariadne-Faden einflicht.
Mit seinen Zeichnungen versucht Munuera das Projekt noch zu retten: Obgleich seine Zeichnungen sehr aufwendig sind und die Emotionen der Figuren überzeugend zum Ausdruck bringen, überzeugt er vielmehr durch seine bewusst eintönige Kolorierung. Die ganze Stadt ist in Braun- und Ockertöne getaucht. So verleiht Munuera dem Comic wenigstens visuell die dringend notwendige Stringenz, welche die Erzählungen leider vermissen lassen.
Es tauchen fast keine grellen Farben auf, die die Eintönigkeit durchbrechen. Nur an ganz wenigen Stellen ist ein roter Blutklecks auf dem Braun zu sehen. Auch durch die graphische Darstellung der Nacht versucht Munuera das Leitmotiv des Außenseitertums einzufangen. Das blaugraue Zwielicht dringt von außen ein, kontrastiert die Eintönigkeit der Stadt und vermischt sich am Ende des ersten Bandes mit ihr.
Aus erzählerischer Sicht scheitert das Erzählexperiment Fraternity nach dem ersten Band ebenso wie das Gesellschaftsexperiment New Fraternity. Zu viele Handlungsstränge prasseln auf den Leser ein, überlagern sich und bieten auf 56 Seiten keinen Raum für Entwicklung. Für einen Pilotfilm oder den Auftakt eines fortlaufenden Comics wären die vielen losen Enden sicherlich sinnvoll, doch sprengen sie den Rahmen der komprimierten Form von zwei Comicbänden. Den rettenden Ariadne-Faden, mit dem man aus seinem Erzähllabyrinth entkommen könnte, liefert der Autor nicht.
Wertung:
Der Comics ist so überladen, dass man vor lauter Handlungssträngen völlig den Ariadne-Faden verliert.
Fraternity 1
Ehapa Comic Collection, Juni 2013
Text: Juan Díaz Canales
Zeichnungen: José Luis Munuera
Übersetzung: Uwe Löhmann
56 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 15 Euro
ISBN: 3770436996
Abbildungen © José Luis Munuera, der dt. Ausgabe: Egmont Ehapa