Es ist heute fast unvorstellbar, welche emotionale Wucht dieser einfache Satz in der DDR besaß. Wer einen Antrag auf Ausreise stellte und sich noch nicht im Rentenalter befand, wurde im realsozialistischen Einparteienstaat nach diesem Bekenntnis automatisch zum Dissidenten und Verräter an der guten Sache erklärt. In der nun folgenden oft Jahre anhaltenden, zermürbenden „Bearbeitungszeit“ bis zur Genehmigung waren der Antragssteller und seine nahe Verwandschaft schutzlos den teils subtilen, teils brutal offenen Schikanen der Staatssicherheit ausgesetzt – offziell als „Zersetzungsmethode“ bezeichneter Psychoterror, mit dem Ziel, eine Rücknahme des Antrags zu erreichen. Hinzu kam in vielen Fällen der sofortige Verlust des Arbeitsplatzes und die soziale Ächtung durch Nachbarn, Kollegen und Verwandte, entweder motiviert durch überzeugte Systemtreue oder die Angst vor einem ähnlichen Schicksal.
Diesen Zustand der Unsicherheit und Ausgrenzung gibt Simon Schwartz in seinem autobiografischen Comic drüben! beeindruckend wieder, wenn er die Geschichte seiner Eltern erzählt, die den Entschluss zur Ausreise kurz vor seiner Geburt Anfang der 1980er fassten. Im Folgenden gerieten sie dadurch ins Auge der Stasi und entzweiten sich mit den Großeltern väterlicherseits. Doch drüben! ist keine verbitterte Anklage gegen den einstigen deutschen Unrechtsstaat. Die Comicerzählung bewahrt sich eine gewisse Ambivalenz dadurch, dass sich der Künstler die Zeit nimmt, die langsame Wandlung seines Vaters vom überzeugten Jungsozialisten zum Systemflüchtling nachzuzeichnen. Auch versucht er, die ihm so fremden, systemtreuen Großeltern zu verstehen.
Wie es in Persepolis, dem Klassenprimus im Genre der autobiografischen Geschichtscomics, in Bezug auf den Iran geschieht, wird auch in drüben! an Hand des eigenen Familienschicksals das Leben und Denken in der für viele, vor allem jüngere Deutsche bereits so fernen DDR greif- und begreifbar gemacht. Die Erlebnisse seiner Eltern bis zur Ausreise wechseln sich ab mit frühen Kindheitserinnerungen des Zeichners an das Leben in Westberlin und die Zeit nach dem Mauerfall. Der Irrwitz des geteilten Landes offenbart sich so durch die Augen des kleinen Simons, der bereits in seiner kindlichen Naivität ein Gefühl nicht nur für die äußere, sondern – angesichts seiner Familie – auch die innere Spaltung des Landes entwickelt. Trotz der wiederholten zeitlichen Sprünge in beide Richtungen verliert die Geschichte jedoch nie an Stringenz und liest sich äußerst angenehm.
Auch stilistisch weht ein Hauch von Persepolis durch den Comic – interessanterweise ist es aber weniger Marjane Satrapis viel minimalistischer gehaltener Comic, an den drüben! optisch erinnert, sondern eher die ausgefeiltere und mit mehr Hintergründen aufwartende Zeichentrickadaption. Im Gegensatz zu Persepolis ist drüben! auch kein klassischer Schwarz-Weiß-Comic, sondern in sorgfältig abgestimmten Grautönen gehalten, die hervorragend mit Stil und Inhalt der Geschichte funktionieren. Kleiner zeichnerischer Wermutstropfen sind die Gebäude- und Straßenszenerien, die oft einen Tick zu glatt und symmetrisch wirken.
drüben! glänzt nicht mit atemberaubenden Bildern und aufregenden Panellayouts, sondern kommt visuell eher klassisch und unspektakulär daher, was der überwiegend ruhigen, persönlichen Geschichte aber recht angemessen erscheint. In diesem Rahmen nutzt Schwartz dann auch gekonnt viele Möglichkeiten des Mediums Comic und transportiert über seine Zeichnungen erfolgreich die Gefühle der Figuren: Das Unbehagen des kleinen Simons gegenüber dem gestrengen DDR-Grenzposten bei der Passkontrolle anläßlich eines Besuchs bei den Großeltern wird dem Leser ebenso leicht zugänglich wie die Zweifel und Gewissenskämpfe seines Vaters während seiner bebilderten Transformation vom Systemanhänger zum Dissidenten.
Wie seine Zeichnerkollegen Arne Bellstorf, Line Hoven und Sascha Hommer hat Simon Schwartz an der HAW Hamburg Illustration bei Anke Feuchtenberger studiert, wo drüben! ursprünglich als Diplomarbeit entstand. Wieder ein Gewinn für die Hamburger (Zeichen-)Schule also, der letztendlich natürlich einer für die gesamtdeutsche Comicszene ist. Simon Schwartz empfiehlt sich hier mit einem sehr ansprechenden Comic, der einfühlsam ein Stückchen des deutsch-deutschen Trennungstraumas aufarbeitet – und das deutlich über dem Niveau vieler anderer Erstlingswerke! Auf sein bereits in Arbeit befindliches Nachfolgeprojekt darf man gespannt sein.
Und falls sich ein Geschichts- oder Politiklehrer zu dieser Rezension verirrt haben sollte: drüben! gibt zweifelsohne eine ideale Schullektüre und Diskussiongrundlage zum Thema „Deutsche Demokratische Republik“ ab.
drüben!
Avant-Verlag, Oktober 2009
Text und Zeichnungen: Simon Schwartz
110 Seiten, Softcover, s/w, 14,90 Euro
ISBN: 978-3-939080-37-4
Feine Comickunst und Nachhilfe in Sachen DDR in Einem
Abbildungen © Simon Schwartz/Avant-Verlag
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