„Schon wieder ein Piratenszenario“, mag man versucht sein zu sagen und diesen Umstand auf den Erfolg der Fluch der Karibik-Filme zu lenken. Weil aber in den letzten Jahren kaum Piratenstoffe auf den Comicmarkt kamen, mal abgesehen von den eher dürftigen neueren Der rote Korsar-Bänden, darf sich der Freund klassischer Segelabenteuer dennoch freuen. Vor allem, da dieser Band wirklich spannend geworden ist und die gängigen Klischees zwar aufgreift, ihnen jedoch eine frische Brise verleiht.
Der Piratenkapitän Crown verstirbt unerwartet. Seinem ersten Offizier und Vertrauten Red vertraut er die Aufgabe an, jene fünf Kinder auszumachen, die Crown jeweils mit unterschiedlichen Prostituierten gezeugt hatte. Denn Crown hat eine ganze Schiffsladung Gold versteckt und will diese an seine Kinder weitergeben, damit sie einen richtigen Piratenstaat aufbauen. Doch diese Nachkommen haben ihre jeweils eigenen Pläne und auch die Schiffsmannschaft, nunmehr unter Reds Kommando, ist, in ihrer Unwissenheit bezüglich des Ziels, nur widerwillig dazu zu bewegen, die fünf aufzunehmen. Denn diese sind alles andere als vertrauenswürdig.
Spannung und Action durchziehen den ganzen Band und lassen nicht nur das Herz von Landratten höher schlagen. Autor Tristan Roulot nimmt zwar viele Klischees des Genres auf, aber diese gehören einfach dazu. Niemand würde bei einem Western bemängeln, dass darin Schießereien und Pferde vorkommen. So gehören im Piratengenre ein versteckter Schatz, exotische Kulissen, Stürme, das Schiffsleben und Seeschlachten einfach dazu. Das genügt dann auch schon, um alle Freunde des Genres zu verzücken. Aber auch Leser, die bislang keine großen Abenteuerfreunde waren, werden hiermit etwas anfangen können.
Zum einen ist dieser Zweiteiler nicht mit den eher betulichen Comicvorgängern zu vergleichen. Das Testament ist düster, blutig und zeigt eine zutiefst verdorbene Welt, in der nur der pure Egoismus regiert. Die Piraten sind alles andere als freiheitsliebende aber doch patriotisch gesinnte Robin Hoods, die unter einer rauen Schale einen weichen Kern verstecken, wie es manchmal in Der rote Korsar und in vielen Filmen suggeriert wird. Nein, hier sind alle böse und nicht nur innerlich verfault. Dass keine der Figuren sympathisch ist, ist durchaus ein Wagnis des Autors, da es die emotionale Beteiligung des Lesers an den Erlebnissen der Figuren erschwert. Dafür gelingt es Roulot, seine Protagonisten charismatisch darzustellen, so dass es durchaus spannend bleibt, deren Entwicklung und Schicksal zu verfolgen.
Der Comic enthält auch einige starke Krimielemente, die aber der Spannung nur gut tun und dazu beitragen, dass eine Aneinanderreihung von Klischees vermieden wird. Die wirklich überraschende Wendung am Ende des ersten Bandes ist leider bei näherer Betrachtung nicht ganz logisch (mehr kann man dazu hier nicht sagen, ohne diesen Twist zu verraten). Ein kleines Frank-Miller-Zitat auf Seite 16 verweist auf die Zielsetzung des Autors: Mit Das Testament des Captain Crown möchte er eine Wiederbelebung des Piratencomics schaffen und somit das, was Frank Miller mit Sin City für das Krimigenre erreicht hat. Ob diese Zielsetzung langfristig Erfolg hat, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall gehört diese zweiteilige Serie zu den besten Vertretern des Genres überhaupt.
Denn auch graphisch ist sie sehr gelungen: Variantenreiches Spiel mit Panelstrukturen und Experimente im Seitenaufbau verleihen der Geschichte eine zusätzliche Dynamik und fügen ihr eine epische Ebene hinzu, wie es das Cinemascope-Format bei vielen Filmen erreicht hat.
Wertung:
Gelungene Wiederbelebung des Piratencomics, die nicht auf Klischees verzichtet, aber mit Krimielementen eine düstere und blutige Atmosphäre schafft
Das Testament des Captain Crown 1 – Fünf Hurenkinder
Ehapa Comic Collection, Oktober 2011
Autor: Tristan Roulot
Zeichnungen: Patrick Henaff
48 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 13,99 Euro
ISBN: 978-3-7704-3506-7
Leseprobe
Abbildungen: © der dt. Ausgabe: Ehapa Comic Collection