Rezensionen

Das falsche Geschlecht

Cover Das falsche Geschlecht Die gemeinsame Lebensgeschichte von Paul Grappe und Louise Landy liest sich in ihrer Verdichtung wie ein typisches Stück aus der Boulevardpresse, eine kuriose Story um einen Mann in Frauenkleidern, voller Sex, Alkohol und Gewalt. In ihrem mit dem Publikumspreis von Angoulême ausgezeichneten Comic Das falsche Geschlecht wirft die Comicautorin Chloé Cruchaudet nun einen alles andere als reißerischen Blick auf dieses ungewöhnliche Paar, das sich im Paris der Belle Époque kennen und lieben lernte. Basierend auf wahren Begebenheiten, aber vor allem mit viel erzählerischem Talent schafft die Zeichnerin so ein zurückhaltendes und bewegendes Drama, das sich zugleich als eindringliche Gesellschaftskritik verstehen lässt.

Dass Paul und Louise anders sind, wird bereits auf den ersten Seiten deutlich. Im Jahr 1911 treffen sich die beiden bei einem Tanzabend und begegnen sich gleich auf Augenhöhe. Auf die Konventionen ihrer Zeit, die Ratschläge der besorgten Mütter sowie die aufgesetzten Benimmregeln, wie sich denn nun dem anderen Geschlecht gegenüber zu verhalten sei, pfeifen die jungen Leute bei ihrer Annäherung einfach. Cruchaudet setzt den Frischverliebten und ihrer Unangepasstheit mit einer Doppelseite, auf der ein ausgelassener Tanz auch nur den Gedanken an ordnende Panels völlig durcheinander wirbelt, ein sinnliches Denkmal. Doch das unbeschwerte Dasein nimmt ein jähes Ende, als Paul kurz nach der Hochzeit zum Kriegsdienst einberufen wird und sich plötzlich in den dreckigen und von Blut getränkten Schützengräben des Ersten Weltkrieges wiederfindet. Um dem Horror des Frontkrieges zu entkommen, beschließt Paul zu desertieren. Zwar gelingt ihm die Flucht zurück nach Paris, doch als Fahnenflüchtigem droht ihm dort die Todesstrafe. Völlig verzweifelt lässt Paul sein altes Ich verschwinden – und verwandelt sich mit Louises Hilfe, etwas Make-up und passenden Kleidern in „Suzanne“.

Seite aus Das falsche Geschlecht Von den vielen überlieferten Anekdoten aus dem Leben von Paul/Suzanne und Louise beschränkt sich Cruchaudet vor allem auf das Eheleben ihrer Protagonisten und zeichnet so das intime Portrait einer Beziehung abseits der Norm. Dabei wird aber auch immer die politische Dimension des Privaten spürbar: Besonders die Rahmenhandlung, die sich in Form eines Gerichtsprozesses um die eigentliche, weiter in der Vergangenheit zurückliegende Geschichte legt, gibt tiefe Einblicke in die Abgründe einer heteronormativen Gesellschaft, die sexuelle Abweichungen und Uneindeutigkeiten nicht akzeptieren will und sogar bestraft. Die nicht immer sympathischen Hauptfiguren wirken indes in Cruchaudets Zeichnungen mit ihren dünnen, durchlässigen Konturen vor den oftmals bedrohlichen Hintergründen aus schwarzer Tusche und Graphit auf einnehmende Weise verletzlich. Und auch anhand der Panelstruktur versteht es die Autorin, die Umstände und Bedingungen, unter denen Paul und Louise leben, sichtbar zu machen: Im Krieg färben sich die Räume zwischen den Einzelbildern pechschwarz und durchziehen wie Schützengräben die Seiten, während sich die Panels bei Suzannes erotischen Ausflügen in den Stadtwald in weichen Kurven aneinander schmiegen.

Am bitteren Ende von Das falsche Geschlecht scheint die gesellschaftliche Ordnung, die allein in der Existenz von jemandem wie Suzanne eine Bedrohung zu wittern scheint, wieder hergestellt. Doch mit einer letzten Pointe, die entscheidend von den realen Geschehnissen abweicht, gelingt es Cruchaudet, einen unversöhnlichen und gerade deshalb hoffnungsvollen Ausgang für ihre Geschichte zu finden.

 

Wertung: 9 von 10 Punkten

Ein bewegendes Drama über eine Liebe abseits der Norm, das mit treffender Gesellschaftskritik wie mit erzählerischer Raffinesse gleichermaßen überzeugt.

 

Das falsche Geschlecht 
Avant-Verlag, August 2014 
Text und Zeichnungen: Chloé Cruchaudet
Übersetzung: Marc André Schmachtel und Sahar Rahimi.
160 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 24,95 Euro
ISBN: 978-3-945034-08-8
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Abbildungen: © Chloé Cruchaudet, der dt. Ausgabe: Avant-Verlag