Rezensionen

Beta … civilisations Volume 1

Cover Beta ... civilisationsIm Jahre 2010 erschien mit Jens Harders Buch Alpha … directions der Beginn eines Mammutwerkes. Als erster Teil einer als Trilogie geplanten Beschäftigung mit der Entwicklung der Erde und deren Bewohner, die vom Urknall ausgehend bis in die Zukunft reichen soll. Über vier Jahre später liegt jetzt Beta … civilisations Volume 1 vor, der nicht weniger umfangreiche Nachfolger, dessen zweite Hälfte aufgrund der Fülle an Material später nachgereicht werden muss, bevor es schließlich in Gamma den Abschluss des Langzeitprojektes geben wird.

Das wird voraussichtlich, bei gleichbleibendem Veröffentlichungsrhythmus, etwa 2023 der Fall sein. Dass Harder bis dahin die Lust verlieren könnte, scheint kaum vorstellbar. Zu akribisch hat er seine Arbeit durchgeplant, zu viel Herzblut und Fleiß steckt im bisher Produzierten. Beta … civilisations setzt kurz nach dem Aussterben der Dinosaurier vor 65 Millionen Jahren ein. Säugetiere überlebten und setzen ihren Siegeszug fort. Irgendwann entwickelt sich aus dieser Konstellation heraus der erste Vorläufer des Menschen. Der Rest ist Geschichte.

Wobei der Begriff „Geschichte“ sich in Bezug auf das Gesamtwerk Harders nicht ganz so einfach anwenden lässt. Was vordergründig wie ein Comic wirkt (Panels mit gezeichneten Bildern flankiert von einer Erzählstimme) ist in Wahrheit gar keiner. Es wird zwar über das gesamte Projekt hinweg ein Bogen mit einem klaren Anfang (Urknall) und einem Ende (die zukünftige Menschheit) gespannt, dieser wird allerdings primär durch die knappen Textzeilen vorangetrieben und weist erkennbar keinen direkten Bezug zu einzelnen Panels auf (wohl aber zu einem diffusen Bündel an Bildern). Meines Erachtens war es auch niemals Harders Bestreben, seine Idee als „echten Comic“ umzusetzen. Immerhin besteht seine Leistung vor allem im Zusammentragen und Anordnen der Vorlagen. Würde der Textanteil die Seiten dominieren und nicht die ins Auge stechende Vielzahl als Bildern, es würde niemand mehr von einem Comic sprechen.

Es findet genau genommen eine Erzählung statt. Und zwar die eine, die größte und längste, die man sich vorstellen kann. Der Protagonist: Die Menschheit. Gleichzeitig fehlt die Verknüpfung, die Bindung zu dem, was auf den Seiten optisch wahrzunehmen ist, quasi die narrative Forum und Struktur eines Comics. Statt auf Sequenzen, die zwischen zwei benachbarten Panels stattfinden und im Kopf des Betrachters eine Bewegung, einen unmittelbaren Fortlauf generieren, setzt Harder auf eine kompositorische Erzählstruktur, die eher nonlinear verläuft. Bild und Wort stehen damit nur in einem groben Sinnzusammenhang, bei dem beide sich gegenseitig eher begleiten als miteinander zu interagieren, aber kein geschichtliches Netz bilden.

Doppelseite aus Beta ... civilisationsWie für eine endlose Collage setzt Harder seine von unzähligen Vorlagen aus allen Epochen stammenden Abbildungen zeichnerisch um und arrangiert sie zu einer persönlichen Sichtweise auf die Entwicklung von Erde und Mensch. Insofern ist es Harders Versuch, seine eigene Wahrnehmung der Dinge grafisch zu vermitteln. Dementsprechend kann man hier auch von einer subjektiven Gewichtung der Inhalte sprechen und von einer intuitiv geleiteten, assoziativen Erzählstruktur. So folgt beispielsweise einer Vorstellung verschiedener Affenarten, vermittelt über den Begriff der Primaten und der später folgenden Selbstsicht des Menschen als Herrentier (bzw. –mensch), eine Reihe von Bildern, auf denen nacheinander Jesus Christus, Superman, Elvis und Adolf Hitler erscheinen. Das mag an manchen Stellen etwas überfordernd sein und derlei gewagte Darstellungen strapazieren in ihrer Häufigkeit durchaus hin und wieder die Aufmerksamkeit des Lesers, doch das Beispiel belegt gut, wie der Künstler bei seiner Auswahl, bei seinen Arrangements vorging. Immer wieder gliedert er einzelne Entwicklungsschritte aus, zeigt mal mehr und mal weniger ausführlich deren Stellenwert für nachfolgende Glieder in der evolutionären Kette. Das ist mit extremen Zeitsprüngen verbunden, mit einer Flut an Bildern, die aus allen verfügbaren Quellen zusammengetragen wurden und schließlich unvermittelt auf den Betrachter einprasseln.

Das ist in der Gesamtschau brillant und einzigartig. Aber mit Sicherheit ist Beta … civilisations, genau wie sein Vorgänger, kein Comic und auch keine Graphic Novel, wie wahlweise von vielen Medien immer wieder behauptet wird (auf der Infoplattform graphic-novel.info wird der Band übrigens sinnigerweise nicht als „Graphic Novel“, sondern als „Weltchronik in Comicform“ angekündigt). Alpha … directions bekam unterdessen 2010 sogar den Max-und-Moritz-Preis für den besten deutschsprachigen Comic. Eine schöne Anerkennung für Jens Harder, der sich immerhin an ein bislang einzigartiges Unterfangen gewagt hat und sehr viel Mühe und Recherche in das Projekt steckt. Dennoch bleibt die Preisvergabe völlig fehlgeleitet, da man wohl einfach davon ausging, dass ein Buch von einem Comiczeichner, das sehr viele Bilder in kleinen Rechtecken beinhaltet, schon irgendwie ein Comic sein wird.

Aufgrund mangelnder Vergleichbarkeit mit ähnlichen Werken ließe sich Harders Arbeit noch am ehesten als Kunst-Sach-Lehr-Bilderbuch mit wissenschaftlich-atheistischer Grundlage bezeichnen. Oder wie es Kollege Kögel vor einiger Zeit mal kürzer formuliert hat: Ein „großer Evolutions-Bilderbogen“. Trifft den Nagel eigentlich auf den Kopf …

 

Wertung: 9 von 10 Punkten

Evolution, wie man sie noch nicht gesehen hat: Akribisch setzt Jens Harder sein Opus Magnum fort

  

Beta … civilisations Volume 1
Carlsen, März 2014
Text und Zeichnungen: Jens Harder
368 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 49,90 Euro
ISBN: 978-3-551-78989-1
Leseprobe

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Abbildungen: © Jens Harder / Carlsen Verlag

 

2 Kommentare

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