Rezensionen

3 Sekunden

Cover 3 SekundenEin normaler Comic ist für Marc-Antoine Mathieu scheinbar nicht genug. Der Mann experimentiert einfach zu gerne und verschiebt mit jedem neuen Werk die Grenzen des Mediums wieder ein kleines Stück nach außen. Das bewies er nicht zuletzt bei seinen Arbeiten über Julius Corentin Acquefacques, den Angestellten im ominösen Ministerium für Humor, wo Mathieu mit Farben und Formen spielte, den Comic als Vehikel benutzte, um für den Leser neue Dimensionen zu erkunden, das Korsett der linearen Panel-Erzählstruktur aufzubrechen und auf den Kopf zu stellen.

Sein neues Buch, 3 Sekunden, ist ein weiterer, allerdings noch radikalerer Schritt in die selbe Richtung: Das Projekt lässt sich als eine Art grafisches Verwirrspiel, als optisches Rätsel begreifen. Mathieu schickt den Leser in Echtzeit auf die Reise eines einzigen Blickes, genauer gesagt verkörpert der Betrachter den Blick und zoomt damit ins Geschehen. Über den gesamten Band hinweg reflektiert sich das gesehene Bild so durch alle Panels, in dem es immer wieder auf mal mehr, mal weniger offensichtliche Spiegelflächen trifft und zurückgeworfen wird.

Das allein klingt verrückt, aber es ist in Wahrheit noch viel verwirrender. Denn obwohl die Handlung in diesem Comic nur drei Sekunden dauert (und man damit de facto nur Standbilder zu sehen bekommt) gibt es sowohl eine ausufernde Story als auch einige tragende Figuren. Dass der Inhalt überhaupt transportiert wird, ist dem einzigen beweglichen Element zu verdanken, dem fortwährenden Zoomblick. Durch dessen zufällig hin- und hergeworfene Richtung, entblößt sich durch die verschiedenen Perspektiven allmählich ein Puzzle, das der Leser im Kopf nur noch kriminologisch zusammenfügen muss. Das Ziel ist, das Motiv eines gerade stattfindenden Verbrechens (ein Mann bedroht einen anderen hinterrücks mit einer Pistole) herauszufinden.

Seite aus 3 SekundenDa hat sich Marc-Antoine Mathieu also erneut mit viel experimentellem Engagement an ein ungewöhnliches, innovatives Comicprojekt gewagt. Ein Unterfangen, das dem Franzosen wohl mindestens genau so viel Konzentration abverlangt hat, wie es bei potentiellen Lesern der Fall sein wird.

Wie soll man einen Comic bewerten, der ohne Worte und ohne Farbe auskommt und in dem Handlung und Bewegung nur über indirekte Wege zum Tragen kommen? Am Besten, man stuft Mathieu als brillanten Comicschaffenden dort ein, wo er ohnehin schon immer gespielt hat: in seiner ganz eigenen Kategorie.

Als Bonus gibt es auf den Verlagsseiten von Reprodukt den Comic als animierte Digitalversion. Dazu benötigt man allerdings das sich in der gedruckten Ausgabe befindliche Passwort. Der real ablaufende Zoom dauert zwar länger als drei Sekunden, dafür ist immerhin die Geschwindigkeit frei einstellbar. Eine nette und sehr anschauliche Variante, die den Comic zusätzlich zu etwas Besonderem macht.

 

Wertung: 9 von 10 Punkten

Fantastisches Comicrätsel mit einer aufwendigen grafischen Idee

 

3 Sekunden
Reprodukt, Juli 2012
Text und Zeichnungen: Marc Antoine Mathieu
Übersetzung: Martin Budde
80 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: 18 Euro
ISBN: 978-3-943143-06-5
Leseprobe

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Abbildungen: © der dt. Ausgabe: Reprodukt