Es ist 1984, Ulli ist gerade 17 geworden und lebt mit ihrer älteren Schwester in Wien, wo sie sich vor allem in der Punk-Szene bewegt. Auf Schule und Ausbildung hat sie gerade keine Lust, sie will experimentieren und das Leben möglichst spontan kennenlernen. Kein langes, rationales Abwägen, „Jetzt oder nie“ heißt die Devise. Das gilt auch, als ihre neue Bekanntschaft, die ein Jahr ältere Edi, vorschlägt, man könne doch einfach mal nach Italien fahren. Und zwar ohne Geld, ohne Gepäck und ohne Papiere. Was folgt, ist ein zweimonatiger Trip, der mit dem Wort „Abenteuer“ nur unzureichend beschrieben ist. Mehr als 20 Jahre später hat Ulli Lust aus ihren Erlebnissen von damals eine autobiographische Comicerzählung geformt, die den Leser in mehrfacher Hinsicht zum Staunen bringt.
Das beginnt schon beim Format: 464 Seiten hat Heute ist der letzte Tag vom Rest Deines Lebens – so dick war wohl noch kein autobiographischer Comic aus deutschsprachiger Eigenproduktion. Aber Ulli Lust hat auch weitaus mehr zu erzählen als durchschnittliche Jugenderinnerungen, die beim Leser ein nostalgisches „Bei mir war's ganz ähnlich“-Gefühl auslösen. Die Erfahrungen, die sie auf ihrer Italienreise machte, haben andere Jugendliche eher nicht gemacht. Der Nervenkitzel beim illegalen Grenzübertritt im Wald gehört da noch zu den harmloseren Dingen – Ulli und Edi geraten an zwielichtige Typen, kommen in Kontakt mit harten Drogen und der Mafia und landen kurzzeitig im Gefängnis. Vor allem aber bekommen sie es immer wieder mit Männern zu tun, die die beiden jungen Österreicherinnen als sexuelles Freiwild betrachten und entsprechend behandeln.
Edi hat damit kein großes Problem, sie ist ohnehin sehr sexhungrig und nutzt ihren Körper als praktisches Zahlungsmittel. Ulli jedoch findet die ständigen Zudringlichkeiten, denen sie immer wieder ausgesetzt ist, alles andere als angenehm. Dieses Gefühl steigert sich noch in der zweiten Hälfte des Buches, als Edi und Ulli wegen des einbrechenden Winters von Rom nach Sizilien weiterziehen. In der patriarchalischen, überaus konservativen Gesellschaft, die dort in den 80er Jahren herrscht, ist es schlichtweg unvorstellbar, dass junge Mädchen allein und selbstbestimmt herumlaufen. Und wenn doch, dann kann es sich ja nur um Huren handeln.
„Es ist gleichgültig, wie ich aussehe und was ich sage. Ich bin nur ein Loch auf zwei Beinen, mit zwei wackelnden Brüsten vorne dran.“ Das beklemmende Gefühl, wie ein Tier im Zoo angestarrt zu werden und ständig Angst vor sexuellen Übergriffen bis hin zur Vergewaltigung haben zu müssen, bringt Ulli Lust sehr überzeugend zu Papier. Während ihre Zeichnungen zunächst überwiegend realistisch-dokumentarisch gehalten sind, werden Angst, Wut und Verzweiflung später auch surreal-sinnbildlich dargestellt. „Ich muss mich zurückziehen. Ich muss verschwinden“, heißt es in einer Szene, worauf die Comicfigur Ulli vorübergehend unsichtbar wird. An anderer Stelle zeichnet sich die Künstlerin als wutentbranntes, in Flammen stehendes Mädchen oder einen schmierigen, zudringlichen Italiener als unförmige, glitschige Masse.
Am Tiefpunkt angekommen, nach einer Nacht im Gefängnis, gelingt es Ulli schließlich, das Italien-Kapitel zu beenden und nach Hause zurückzukehren. Eine glorreiche Heimkehr wird es freilich nicht.
Obwohl die Themen, von denen hier erzählt wird, teilweise sehr unangenehm sind, ist dieser Comic trotzdem überaus unterhaltsam. Ulli Lust erzählt so lebensnah und mitreißend, dass eine Sogwirkung entsteht, die einen das Buch nur sehr schwer aus der Hand legen lässt. Nichts wirkt hier gekünstelt oder auf einen Effekt hin konstruiert, man nimmt der Autorin und Zeichnerin ab, was sie erzählt. Das gilt nicht nur für die schweren, dramatischen oder gefährlichen Momente, sondern auch für Szenen, die glückliche Momente beschreiben. Etwa, wenn sich Ulli und Edi über Kleinigkeiten wie eine Wurstsemmel freuen. Die Zeichnungen unterstützen diese Unmittelbarkeit. Schwarz und weiß, mit einem Olivgrünton als Ergänzung, wirken die Bilder sehr direkt, fast dokumentarisch. Gelegentlich werden alte Fotos oder Ausrisse aus ihrem Tagebuch eingestreut, was den dokumentarischen Effekt noch verstärkt.
„Überlebt und gezeichnet von Ulli Lust“ heißt es in der ersten Version von Heute ist der letzte Tag vom Rest Deines Lebens, die ab 2005 in Einzelepisoden online auf electrocomics.com veröffentlicht wurde (für die Printausgabe wurde der Comic noch einmal neu bearbeitet). In dieser Formulierung klingt bereits an, dass die Zeichnerin ihre Erlebnisse von damals mit einer gewissen, nicht nur zeitlichen, Distanz betrachtet. Die Ich-Erzählerin in ihrem Buch, die das Geschehen gelegentlich kommentiert, ist die Ulli Lust von heute, die sich manchmal selbst wundert, wie naiv und blauäugig sie als Teenager war. Dies ist kein nostalgisch verklärter Blick zurück in die Jugendzeit, vielmehr ein schonungslos ehrliches Erinnern an eine Zeit, auf die die Autorin nicht stolz ist. So entschuldigt sie sich auf der letzten Seite des Buchs bei ihren Eltern und dankt ihrem Sohn dafür „dass er so vernünftig ist“.
Heute ist der letzte Tag vom Rest Deines Lebens
Avant-Verlag, Oktober 2009
Text und Zeichnungen: Ulli Lust
464 Seiten, Softcover, schwarzweiß + olivgrün, 29,95 Euro.
ISBN: 978-3-939080-36-7
Abbildungen: © Ulli Lust / Avant-Verlag