Träume von Glück stammt aus der Schaffenszeit, in der Jiro Taniguchi hauptsächlich alltägliche Themen aufgreift und sie in einem ruhigen Erzählstil darbietet. Inhaltlich fasst Träume von Glück fünf recht unterschiedliche Kurzgeschichten zusammen: Die ersten vier Kurzgeschichten handeln von einer Familie und ihrem Umgang zuerst mit einem Hund, dann mit Katzen und später einer Verwandten, wobei in dieser letzten Geschichte die Katzen kaum noch eine Rolle spielen.
Die erste Kurzgeschichte erzählt die Leidens- und Sterbensgeschichte von Tamu, dem Hund eines kinder- und namenlosen Ehepaares. Die überbordend innige Zuwendung zu Tamu in seinen letzten Wochen erscheint mir stets als Parabel, wie man in der Familie oder Hospizarbeit Menschen auf ihrem letzten Gang begleiten sollte. Taniguchi selber spielt diese Bedeutungsdimension in die Erzählung hinein, indem er zweimal direkt Vergleiche und Erwägungen zu Tod und Sterben von alten Menschen aussprechen lässt. Das bringt zum Nachdenken über Tod und Sterben und bietet durch die anrührende Sorge des Paares für Tamu zugleich ein Vorbild für humanes Handeln an.
Einen sich nicht aufdrängenden Verweis muss ich noch enthüllen: Dasselbe Paar (auch Hund Tamu fehlt nicht und ist noch ein kräftiger Bursche) taucht in dem zwei Jahre später gezeichneten, aber chronologisch früher spielenden Band Die Sicht der Dinge (dt. bei Carlsen, 02/2008) wieder auf. In diesem Comic hatten Streitereien mit seinem verstorbenen Vater dazu geführt, dass Yoichi (hier haben beide Eheleute Namen) das Sterben seines Vaters ignoriert hat und bei der Totenwache zur Einsicht kommt, dass er seinem Vater Unrecht getan hat. Die aufopfernde Sterbebegleitung an Hund Tamu erscheint vor diesem Hintergrund in einem ganz anderen Licht.
Bei den beiden nächsten Kurzgeschichten – nach dem Tod des Hundes – über die Katzen fehlt eine solche Tiefendimension an Deutung, die Alltäglichkeit ist mit Händen zu greifen. Die Abenteuer bestehen darin, dass die Katze schwanger wird und dass die Familie entscheiden muss, wie viele Kätzchen sie weggeben darf, ohne lieblos zu sein. Zugegeben, diese Geschichten langweilten mich, auch weil der Umgang mit Katzen im fernen und kulturell angeblich so ganz anderen Japan mir den Eindruck vermittelten, ich würde ins Wohnzimmer katzenfanatischer, ältlicher Nachbarinnen hier in Deutschland kiebitzen. Deren Leben würde auch als Comic nicht aufregender. Die Darstellungsform im ruhigen und beschaulichen Stil ist ansprechend, aber irgendwie fehlte mir die Story, die des Erzählens lohnt. Die durchgängig liebevolle Harmonie im Umgang mit Mensch und Tier entzieht den Buchseiten doch eine Menge Spannung, auch wenn Schwierigkeiten beim Koten und Urinieren wiederholt in tabuloser Offenheit dargestellt werden.
Tiefsinniger werden die vier Kurzgeschichten erst, wenn man sie wie Short Stories im alten Stil liest. Dann erzählen sie nämlich das eigentliche Thema der Geschichte nicht im Vordergründigen, sondern in ihrer Tiefendimension. Tatsächlich verbindet alle vier Kurzgeschichten als Thema die Einsamkeit des kinderlosen Paares und ihre Sehnsucht, in irgendeiner Form für andere da zu sein. Dann findet dieses menschliche Bedürfnis nach gebender Zuwendung seine Entsprechung in der Aufopferung für den sterbenden Hund Tamu, für die Katzenmutter Boro und ihre Kleinen (das Gegenteil des kinderlosen Paares, das die Kleinen weggeben soll, weil vier ausgewachsene Katzen zuviel Arbeit machen würden!) und schließlich in der Begegnung mit ihrer 12-jährigen Nichte Aki. Diese Geschichte heißt bezeichnenderweise „Tage zu dritt“ – die Tiere im Haus werden nicht mehr mitgerechnet. Aki ist weggelaufen, weil ihre alleinstehende Mutter ihre Einsamkeit bei einem neuen Freund verliert und Aki mit der neuen Situation nicht zurecht kommt. Deshalb sucht sie Zuflucht bei unserem kinderlosen Paar. Auf diese Weise erschlossen, drehen sich alle Geschichten hintergründig und mit immer neuen Facetten um die Themen Einsamkeit, Fürsorge und Zuwendung. Allerdings fehlen den Taniguchi-Geschichten die Spannung, dramatic irony und aufreibende Überraschungsmomente, die für englische Short Stories typisch sind …
Die fünfte und letzte Geschichte fällt aus dem jetzt gezeichneten Rahmen ganz heraus. Sie ist abenteuerlich und beschreibt einen halsbrecherischen Himalayaaufstieg, der chronologisch ein Vorausblick auf Wanderer im Eis (dt. bei Schreiber und Leser, 10/2006) sein könnte. Mit den anderen Geschichten ist diese Geschichte nur lose dadurch verknüpft, dass darin auch ein Tier, ein Schneeleopard, eine zentrale Rolle bekommt.
Jiro Taniguchi ist ein renommierter und in Japan und Frankreich bekannter Mangaka, im Geschäft seit 1972, seit 1974 preisgekrönt. Träume von Glück ist der 3. Band in der Carlsen Edition zu Jiro Taniguchi. Die erste Graphic Novel bei Carlsen Vertraute Fremde (1998 gezeichnet, 2007 auf Deutsch erschienen) ist 2008 denn auch zum Comic des Jahres gekürt worden – eine lange Zeit, bis ein guter Comic es schafft, in die deutsche Sprache überzusiedeln. Der zweite Band bei Carlsen ist Die Sicht der Dinge (1994), das hier besprochene dritte Buch Träume von Glück stammt im Original aus dem Jahr 1992. Bekannt ist Taniguchi auch durch Werke beim Verlag Leser & Schreiber wie Der Wanderer im Eis (2004), Gipfel der Götter (2000) und Die Stadt und das Mädchen (1999) (die Jahreszahlen geben das Entstehungsdatum des japanischen Originals an).
Fazit: Mich hat es leider nicht gepackt, Tierfreunde vielleicht!
Träume von Glück
Carlsen Comics, Juni 2008
Text/Zeichnungen: Jiro Taniguchi
177 Seiten, Softcover, s/w; 14,- Euro
ISBN: 978-3551776594
Abbildungen © der dt. Ausgabe: Carlsen Comics