Da Pinocchio bereits 2009 in Angoulême als „Bestes Album“ gewählt und 2010 in Erlangen mit dem Max-und-Moritz-Preis als „Bester internationaler Comic“ ausgezeichnet wurde, bedarf der Comic darüber hinaus nicht wirklich mehr des Lobs. Was man jedoch tun kann: Man kann versuchen, die Stärken des Werks etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Bei näherer Betrachtung fällt auf, das Winshluss sich mit Pinocchio sowohl erzählerisch als auch grafisch allen definitiven Aussagen entzieht und so neue Maßstäbe für den modernen Comic setzt.
Was von außen wie ein hochwertiges coffeetable book aussieht, liegt etwas zu leicht in der Hand, um einen Kaffeetisch ausreichend beschweren zu können. Im Inneren setzt sich die Ungreifbarkeit fort: Die raue Oberfläche des wunderschönen Papiers schmiegt sich an die Hand an, doch stoßen die zum Teil perversen Szenen das Auge bewusst wieder ab. Diese anfängliche Ambiguität erhebt der Franzose Winshluss, der eigentlich Vincent Paronnaud heißt, zum künstlerischen Konzept. Nachdem der Autor und Zeichner in Deutschland vor allem als Co-Regisseur der Verfilmung von Marjane Satrapis Persepolis aufgefallen war, erschien im avant-verlag vergangenes Jahr nun mit der grafischen LSD-Odyssee Pinocchio sein erster Comic in Deutschland.
Winshluss’ Neuinterpretation klammert sich dabei nicht an Carlo Collodis magische Erzählung über die kleine Holzpuppe Pinocchio, die sich nichts mehr wünscht als ein richtiger kleiner Junge zu werden, sondern zerstückelt die Geschichte und setzt sie episodenhaft neu zusammen. Die Bezeichnung „Adaption“ würde dem Comic jegliche Durchschlagskraft nehmen und sie in eine bestimmte Form pressen. Obwohl das gleiche Personal verwendet wird, so nehmen die Figuren, allen voran Pinocchio, der zum flammenwerfenden Roboterjungen wird, ganz neue Rollen an. Aus Meister Gepetto wird kurzerhand ein geldgeiler Wissenschaftler und aus der kleinen Grille Jiminy wird eine Wanze, ein groteskes Abziehbild des Autors Charles Bukowski. Winshluss hat die Charaktere so weit von ihren Originalen entfremdet, dass jegliche Interpretationsmöglichkeit zunichte gemacht wird. Das einzige was bleibt, sind entfernte Bilder der Figuren aus Collodis Geschichte, die stets einen entfernten Nachgeschmack hinterlassen, der sich nicht auflösen lässt.
Winshluss entlässt seinen kleinen Roboter-Pinocchio in eine hässliche und bösartige Welt, in unsere Welt. Dem kleinen Helden fehlt nicht nur jegliche Bestrebung „ein richtiger kleiner Junge“ zu werden, sondern auch jede andere menschliche Regung. So zieht die kleine Ein-Mann-Armee intentionslos, angetrieben von einer unerbittlichen Motorik, von einem Abenteuer ins nächste. So weit entfernt Winshluss und Collodis Versionen auch sein mögen, so kommt doch immer wieder der Titel des Comics ins Spiel. Getrieben durch die Gräueltaten, die dem kleinen Roboter angetan werden, möchte man ihm einfach den Status eines menschlichen Wesens verleihen, man wünscht ihm eine unbeschwerte Kindheit, eine liebende Familie – auch wenn Pinocchio das mit keinem Wort einfordert. Nicht aber das skrupellose Militär oder der kapitalistische Spielzeugwarenhersteller sind die Illusionen, sondern das ersehnte Familienidyll wird zu einer reinen Wunschvorstellung. Die märchenhafte Geschichte wird durch unseren brutalen Alltag jäh unterbrochen und als kindische Fantasie demaskiert.
Den großen narrativen Rahmen hat Winshluss mit seinem Pinocchio gespannt, doch überzeugt er auch im Kleinen, von Panel zu Panel. Ganz ohne Worte steuert er seinen Roboter und den Leser durch ein Szenario, das grafisch an die Comic-Strips der 1950er Jahre erinnert. Sowohl Gestik und Mimik der Akteure als auch der simple Panelaufbau geleiten die Augen sicher über die einzelnen Seiten. Doch auch die grafische Darstellung lässt sich nicht so leicht fixieren. So schwankt Winshluss zwischen dem nostalgischen Stil auf der einen und den perversen Ausschweifungen der Undergroundcomix auf der anderen Seite. Zu Beginn der Geschichte sind diese beiden Welten noch brav voneinander getrennt, aber bereits nach wenigen Seiten dringt das alltägliche Perverse in die wohlbehütete Welt ein.
Um sich nicht in der Geschichte von Pinocchio festzufahren, lockert Winshluss seinen Comic durch die Abenteuer der kleinen Wanze Jiminy auf, die in Pinocchios Kopf wohnt. Diese Episoden erzeugen einen harschen Kontrast zur eigentlichen Geschichte: Winshluss legt für einen Moment die stimmungsvolle Kolorierung beiseite und beschränkt sich für diese Episoden auf schwarzen Zeichenstift. Im Gegensatz zu den restlichen Akteuren nimmt die kleine Wanze dem Mund ganz schön voll und kotzt einen regelrechten Wortfluss à la Charles Bukowski aus: Vom Trinken, von Frauen, vom Schreiben, vom Sex, von Religion und von Elektroschockern philosophiert Jiminy.
Auch wenn deutsche Comickünstler auf dem diesjährigen Comic-Salon Erlangen merklich an Renommee dazu gewonnen haben, so sind Franzosen noch immer die Herren im Haus, das sich BD nennt. Während man sich hierzulande noch an authentische Adaptionen und an der Aufarbeitung von historischem Stoff festklammert, bringt man in Frankreich Comics über sieben Sadomaso-Zwerge und Selbstmordpinguine heraus und überzeugt damit ganz Europa.
Pinocchio
avant-verlag, Dezember 2009
Text und Zeichnung: Winshluss
Hardcover, 188 Seiten, farbig; 29,95€
ISBN: 9783939080404
Eine fabelhafte LSD-Odysee, die grafisch und erzählerisch Spannung erzeugt und die Gehirnwindungen in Wallung bringt.
Abbildungen: © Winshluss, der dt. Ausgabe avant-verlag