Ein Unwetter zieht auf. Unrasiert und deprimiert liegt Asterios Polyp in seinem Bett in einem schmuddeligen Apartment. Plötzlich kracht es fürchterlich, ein Blitz hat eingeschlagen und brennt das Zuhaue des 50-jährigen, desillusionierten Architekten nieder. Ohne Obdach und vom Regen durchnässt kauft sich Asterios vom letzten Bargeld ein Busticket in die Kleinstadt Apogee.
Es ist ein Neustart, eine tour de force hin zu einem besseren Ich. Statt Vorlesungen als Architekturprofessor zu halten, heuert er in einer Autowerkstatt an und wohnt bei seinem neuen Chef und dessen Frau.
Dazu muss man wissen, dass Asterios Polyp in seinem früheren Beruf zwar hoch angesehen, aber letztlich recht erfolglos war. Nicht einer seiner Entwürfe wurde jemals realisiert. Vor der Midlife-Crisis, bevor ihn seine Frau verlassen hat und seine Wohnung abgebrannt ist, konnte man ihn mit Fug und Recht als egozentrischen, arroganten Mistkerl bezeichnen, der niemandem außer sich selbst im Rampenlicht duldete. Doch das war, wie erwähnt, vor seinem Ausbruch aus der Großstadt und nach dem Niedergang seines alten Lebens.
Den Weg dorthin dokumentiert Autor David Mazzucchelli über Rückblenden. Er setzt stilistische Fragmente aus dem Leben des Mannes mit dem merkwürdigen Namen und dem markanten Profil zu einem symbolschwangeren Arrangement zusammen. Mazzucchellis Aufarbeitung der Vergangenheit des Titelhelden ist ein intellektuelles Gemetzel aus Illusion, Kunst, Farbenspiel, Mythologie und architektonischen Versatzstücken. Ein mitunter wirres und nicht ganz so leicht zu dekodierendes Unterfangen für den Leser.
Dazu kommt, dass der Künstler mit seinem Buch eine optische Explosion auf die Comicwelt loslässt. Ein Umstand, der beim ersten Durchblättern nicht auffällt, aber garantiert bei der genaueren Lektüre. Akribisch exploriert er grafische Stile, schiebt wissenschaftliche Exkurse ein, lässt Asterios‘ verstorbenen Zwillingbruder Ignazio als geisterhafte Hülle durch die Bilder wandern.
Mazzucchellis Detailbesessenheit geht sogar so weit, dass er für jede Figur eine eigene Schriftart und dazu passend gleich eine eigene Sprechblasenform entwickelt hat. Und auch die Verwendung der weitflächigen Farben (zumeist gelb, blau oder rot) spielt hier eine Rolle, da deren Verbindung zu den Figuren und den Schauplätzen von symbolischer Bedeutung ist.
Kein Wunder also, dass Mazzucchelli nach zehn Jahren Arbeit an dem Werk und aufgrund seiner perfektionistischen Ader auch Bedingungen an die Verleger ausländischer Lizenzausgaben stellte. Unter anderem musste das Buch äußerlich exakt der amerikanischen Vorlage entsprechen, es musste auf japanischem Recyclingpapier und aufwendig mit unüblichen Sonderfarben gedruckt werden und auch die übersetzten Texte wurden vom Autor persönlich auf ihren individuell korrekten Stil hin kontrolliert. Mehr zu diesem Thema erläutert der deutsche Lizenznehmer Eichborn in seinem Blog.
Mehrere Eisner- und Harvey-Awards sowie ein Spezialpreis der Jury in Angoulême sprechen für sich. Und auch Kritiker und Journalisten sämtlicher Feuilletons überschlagen sich geradezu und würdigen Asterios Polyp als absolutes Meisterwerk der Comichistorie.
Nach dem Lesen des umfangreichen Bandes kann ich diese Meinungen einerseits nachvollziehen, möchte die Euphorie aber ein wenig einschränken: Keine Frage, Asterios Polyp ist ein sehr guter Comic mit vielen innovativen Ideen. Blendet man diese jedoch für kurze Zeit aus, verbirgt sich dahinter eine relativ profane Handlung: ein Mann, der sein Leben bereut und seiner großen Liebe nachtrauert. Und diese in der Gegenwart ablaufende Ebene der Erzählung lässt mich am Ende, nüchtern betrachtet, unbefriedigt zurück.
Dennoch bleibt zu hoffen, dass man auf das nächste abgeschlossene Projekt von David Mazzucchelli nicht erneut so viele Jahre warten muss.
Wertung:
Einzigartiger Comic, der die grafischen Grenzen auszuloten versucht
Asterios Polyp
Eichborn Verlag, August 2011
Text und Zeichnungen: David Mazzucchelli
344 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 29,95 Euro
ISBN: 9783821861302
Abbildungen: © David Mazzuchelli, der dt. Ausgabe: Eichborn
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