Die Zukunft des digitalen Animationsfilms war gestern! Für alle, die diesen Schritt verpasst haben, gibt es jetzt We are the Strange als Doppel-DVD bei Rough Trade. Während der experimentierfreudige Autor und Produzent des Films, M dot Strange, sein fertiges Produkt komplett auf YouTube zur Schau bietet, lohnt sich die Anschaffung dieser Spezialausgabe allein wegen der scharfen Bildqualität, dem überragenden Soundtrack und dem umfangreichen Bonusmaterial (Making of, sechs alternative Soundtracks, unbekanntes Material von M dot Strange). Warum We are the Strange Teil der offiziellen Auswahl beim Sundance Film Festival 2007 war und wieso diese Perle des Animationsfilms erst bei genauerem Hinsehen ihr volles Potenzial entwickelt, verrät euch diese Besprechung.
Der Animationsfilm We are the Strange erzählt die Geschichte des Mädchens Blue, das in einer bizarren Welt von ihrem Zuhälter Him auf die Strasse gesetzt wird. Ein bisschen wie bei Alice im Wunderland mutet Blues Reise in den verlassenen Wald und nach Electric Land an, auf der die digitale Figur auf den kleinen Knetjungen Emmm trifft, der zu ihrem stetigen Begleiter wird. Zeitgleich verfolgt man die Geschichte des maskierten Vigilanten Rain, der sich zusammen mit dem Origamikünstler Ori immer wieder im Kampf gegen die absurdesten Monstrositäten beweist. Der Film entwickelt sich in rasanter Geschwindigkeit vom simplen Märchen zu einer surrealen Version von Peter und der Wolf und wird schließlich zur epochalen Schlacht von animierten Knetfiguren und digitalisierten 8-Bit-Charakteren.
Dabei besitzt We are the Strange die unglaubliche Fähigkeit, seinen Zuschauer immer weiter in die digital konstruierte Welt hineinzuziehen und darin festzuhalten. Bereits nach wenigen Minuten des Zusehens wird man in die ganz subjektive Welt von M dot Strange eingeführt, welche der Regisseur in Anspielung auf die Aufnahmetechnik Cinemascope „Subliminascope“ nennt. Für die Vorstellung der Akteure benutzt M dot Strange den klassischen „Character Selection“-Modus, der ansonsten in Videospielen vorzufinden ist; so erzeugt der Regisseur eine gelungene visuelle Hommage an die Computer- und Videospiele der Achtziger. Der imaginäre Spieler wählt die Figur Camera und verfolgt das Geschehen somit als unbeteiligter Zuschauer. Zunächst wird man sich sicherlich über die vielen Videospiel-Anspielungen, wie z.B. die Soundeffekte aus Super Mario Bros., erfreuen können. Doch dies ist nur ein kleiner Teil des Konzepts, das den Zuschauer über die Schiene der Vertrautheit langsam an diese grotesk anmutende Bilderwelt heranführt.
Schnell wird klar, dass M dot Strange nicht einfach nur eine simple Hommage kreiert hat, sondern die Bilder aus ihrer Tradition herausreißt und dem Zuschauer auf dem Präsentierteller darbietet, nur um sie anschließend geschickt in seine Erzählung zu integrieren. Während einzelne Ausschnitte des Films wie ein Musikvideo von Jonas Åkerlund auf MTV anmuten mögen, geht die Darstellung in We are the Strange weit über die simple Erwähnung solcher populären Subtexte hinaus. Der Prolog des Films wird noch relativ klassisch erzählt, doch schon der Beginn der eigentlichen Handlung entpuppt sich als etwas völlig Unerwartetes: Die ach so schöne, zweidimensionale Welt der Videospiele hält sich nicht mehr länger an die Spielregeln ihrer Existenz. So werden einzelne Ausschnitte aus Spielen mit simplen Bleistiftskizzen des Regisseurs vermischt; zweidimensionale Abbildungen entwickeln ein Eigenleben und werden zu dreidimensionalen Wesen; Puppen und Knetfiguren, wie wir sie aus South Park kennen, stehen ihren digitalen Gegenspielern nicht im Kampf über die Vorherrschaft der jeweiligen Darstellungsformen gegenüber, sondern vereinen sich in einer epochalen Schlacht, die M dot Strange nur für seine Zuschauer kreiert hat.
Trotz der Anleihen aus recht statischen Jump'n'Runs der Achtziger erwartet den Zuschauer aber keine hölzerne Welt, die langsam vor sich hin zuckelt, sondern ganz im Gegenteil: Mittles vieler übereinanderliegenden Bildebenen erschafft M dot Strange ein Sehvergnügen, das traditionelle Bildkonventionen in Frage. Langsame Kameraschwenks werden regelrecht mit Bildmaterial überladen. Solche langsam vorbeiziehenden Tableaus wechseln sich immer wieder ab mit Sequenzen in denen nur eine Figur und visuelle Speedlines zu sehen sind. Durch diesen Wechsel von ruhigen und hektischen Passagen erlangt We are the Strange seine ganz eigene Dynamik.
Die musikalische Grundstimmung wird größtenteils erzeugt durch den 8-Bit-Rhythmus der Videospielfanfaren, der gezielt auf Soundeffekte und Hymnen der Klassiker zurückgreift. Gemischt wird dieses musikalische Szenario abwechselnd mit monumentaler Orchestermusik und klassischen Streichkonzerten, aber auch mit gepflegtem Trip-Hop und technolastigen Passagen. Erst aus der Mischung von Musik und visuellen Eindrücken gewinnt We are the Strange seine unnachahmliche Spannung und Geschwindigkeit. Vergleichbar mit Actionsequenzen von Filmen wie Matrix oder den Schlachtenszenen in Herr der Ringe, erzeugt M dot Strange in seinem Film eine mitreißende Dynamik, die den Zuschauer vergessen lässt, dass auf seinem Bildschirm gerade ein Knetmännchen in einem Kampfroboter gegen eine digital kreierte Figur auf einem animierten Stahlkoloss kämpft.
Mit We are the Strange präsentiert M dot Strange ein neobarockes Schauspiel par exellence. Gerade wegen der Vermischung von bekannten Elementen aus der Videospielewelt und deren grotesker Entstellung auf der digitalen Leinwand lässt sich M dot Strange als digitaler Salvador Dalí bezeichnen; doch tut er dies stets mit einem gewissen Augenzwinkern. Der eigentliche Trick hinter diesem Trickfilm liegt nämlich in seiner Transparenz: Obwohl M dot Strange seine Zuschauer in eine fantastische Welt entführt, weist er immer wieder darauf hin, dass es sich hier um einen Animationsfilm handelt; er täuscht niemanden mit seinen Tricks und Kniffen, sondern lädt den Zuschauer ein, aktiv daran teilzuhaben. Ähnlich wie bei einem Bild von Dalí gilt auch für We are the Strange: Man kann es nicht beschreiben, man muss es selbst gesehen haben.
We are the Strange-Homepage
Der Trailer
Der ganze Film auf YouTube
We are the Strange
Regie: M dot Strange
Spielzeit: 94 Minuten (PAL)
Rough Trade Distribution GmbH, Oktober 2008
2 DVDs, 21,98 Euro, ASIN: B000V6LT8U
Bildquelle: wearethestrange.com