Vor 200 Jahren wurde Heinrich Hoffmann geboren, der Frankfurter Arzt, Psychiater, Schriftsteller und Zeichner, dessen berühmtestes Werk Der Struwwelpeter ist. 1845 erstmals erschienen, wurde das Kinderbuch ein weltbekannter Bestseller, der aus heutiger Sicht vor allem durch seine brachiale Pädagogik beeindruckt. Der Struwwelpeter ist ein Reigen unartiger Kinder, die alle als schlechte Beispiele präsentiert werden. Die Kinder sollten sehen, mit welch schlimmen Konsequenzen zu rechnen ist, wenn man nicht brav und folgsam ist und beispielsweise ständig herumzappelt, am Daumen lutscht oder seine Suppe nicht aufisst.
Immer wieder wurde der Struwwelpeter seitdem adaptiert, parodiert und interpretiert. Die aktuellste dieser Neuinterpretationen stammt von David Füleki aus Chemnitz, der in den letzten Jahren in diversen Veröffentlichungen bei Kleinstverlagen und online seinen ganz eigenen, Manga-beeinflussten Stil entwickelt hat (er zeichnete u.a. eine Geschichte fürs Comicgate-Magazin 3). Bei Tokyopop veröffentlicht er nun erstmals bei einem größeren Verlag, und das gleich doppelt: Zum einen erschien der farbige Hardcover-Band Struwwelpeter – Das große Buch der Störenfriede, eine sehr originalgetreue Version des klassischen Struwwelpeter, die die ursprünglichen Texte enthält und sie mit Bildern von Füleki neu illustriert. Der Zeichner bleibt dabei dem Original sehr treu, jede einzelne Seite ist exakt so aufgebaut und gestaltet wie die Vorlage, nur eben im modernen Stil gezeichnet, mit neu gestalteten Charakteren mit ihren für Füleki so typischen runden Gesichtern, und mit einer sehr stimmigen Kolorierung.
Dieses schmale Bändchen wäre nicht mehr als eine nette Fingerübung, gäbe es da nicht noch ein zweites Buch: den im Manga-Taschenbuch-Format erschienene Comic Struwwelpeter – Die Rückkehr. Dies ist nun tatsächlich eine eigenständige, sehr originelle Neuinterpretation und Weiterentwicklung von Hoffmanns Bildergeschichten. All die liederlichen Kinder, vom Hans-Guck-in-die-Luft bis zum Fliegenden Robert kommen hier vor, und zwar als eine Bande von Anarchisten. Sie sind die „Störenfriede“, Staatsfeinde in einer totalitären Gesellschaft, in der jeglicher Unfug verboten ist und streng bestraft wird. Regiert vom Staatschef Nikolaus (welcher in Hoffmanns Buch drei Jungen, die einen Mohren verspotten, in Tinte taucht), besteht das Volk aus gleichgeschalteten, gehorsamen Bürgern, die sich brav und angepasst verhalten. Spaß und Freude existiert in dieser Welt nicht.
Dies ändert sich, als nach längerer Abwesenheit plötzlich der Struwwelpeter auftaucht und eine Kettenreaktion auslöst, in der sich die anarchischen Elemente, all die vom Staatschef Nikolaus gefürchteten Störenfriede zusammenfinden und gegen das Regime rebellieren. Auf 170 Seiten erzählt David Füleki eine rasante, actionreiche und überaus unterhaltsame Geschichte voller verrückter Ideen und skurillem Humor. Das ist manchmal kindisch, nicht immer logisch und oft ziemlich albern – aber genau darum geht es ja letztlich: dass es einer rationalen, durchorganisierten Welt nicht schaden kann, wenn auch Platz für wilde und ungezügelte Regelbrüche ist.
Dass die Idee einer totalitären, gleichgeschalteten Gesellschaft alles andere als neu ist und dass der Plot gelegentlich ganz schön holpert, stört überhaupt nicht, denn hier ist jeder Seite die Freude am Fabulieren und der Spaß am Herumspinnen anzumerken. Sehr liebevoll hat Füleki aus Hoffmanns ungezogenen Kindern moderne Comichelden gemacht: Sein Zappelphilipp ist ein unglaublich hibbeliges Nervenbündel, das den Begriff „Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom“ neu definiert, der Suppenkaspar ist ein kolossales Riesenbaby, das alles vertilgt – nur eben keine Suppe. Und der Struwwelpeter trägt eine riesige Afrofrisur, die nebenbei als Versteck für alles mögliche dienen kann, außerdem trägt er (aus welchem Grund auch immer) an der linken Hand einen Topflappen-Handschuh – das ist genau die Sorte skuriller Nonsens, die David Füleki so gut beherrscht. Als I-Tüpfelchen gibt es noch zahllose bekloppte Soundwords, allerlei Popkultur-Zitate (angefangen beim Titel-Schriftzug) und kleine satirische Seitenhiebe wie z.B. den herrlichen Auftritt von Tokyopop-Chef Joachim Kaps als Psychiater.
Gezeichnet ist das alles in filigranen, detailverliebten und sehr dynamischen Bildern, die sichtlich von japanischen Comics inspiriert sind, für die aber die Schublade „Manga“ unpassend wäre. Struwwelpeter – Die Rückkehr ist einer der witzigsten Comics seit langem (und obendrein spottbillig) – es ist zu hoffen, dass er auch außerhalb des Tokyopop-Kernpublikums wahrgenommen wird.
Das eingangs erwähnte Große Buch der Störenfriede kommt übrigens als Buch im Buch in der Geschichte vor – es dient dem Diktator Nikolaus als Abschreckungsmittel, bei den Protagonisten um den Struwwelpeter sorgt es dagegen für Rivalitäten, wer denn nun auf Platz 1 der Staatsfeind-Rangliste steht. Als Käufer kann man auf diese nette, aber nicht notwendige Beigabe ganz gut verzichten. Auf Die Rückkehr sollte man aber auf jeden Fall einen Blick werfen, wenn man den Begriff „Comic“ endlich mal wieder ganz wörtlich nehmen will.
Struwwelpeter: Die Rückkehr
Tokyopop, Mai 2009
Text und Zeichnungen: David Füleki
Taschenbuch; 184 Seiten; schwarz-weiß; 6,50 Euro
ISBN: 978-3-86719-652-9
Struwwelpeter: Das große Buch der Störenfriede
Tokyopop, Mai 2009
Text: Heinrich Hoffmann
Zeichnungen: David Füleki
Hardcover; 32 Seiten; farbig; 9,95 Euro
ISBN: 978-3-86719-653-6
Abbildungen: © Tokyopop