Rezensionen

Ralph Azham 1&2

ralph_azham1In einem abgelegenen Dorf wächst ein Kind mit einer besonderen Gabe heran, das der lang ersehnte Auserwählte sein könnte, der die Terrorherrschaft  des die Lande mit seinen wilden Horden terrorisierenden Oberschurken beenden soll … Ja, diese knappe Inhaltsangabe klingt wahrlich wie die schlimme Androhung einer in Klischees und Pathos ertränkten Fantasygeschichte vom Fließband. Da wir es aber mit dem neuesten Werk des französischen Ausnahmekünstlers Lewis Trondheim zu tun haben, darf man auf eine eher unkonventionelle Auslegung der alten Auserwähltenmär hoffen – eine Hoffnung, die hier dankenswerter Weise nicht enttäuscht wird.

 

Die klare Abwendung von der klassischen „Weg des Helden“-Geschichte wird gleich zu Anfang der Erzählung offenbar: Titelheld Ralph ist bereits ein junger Mann und „Ex-Auserwählter“, dessen einst angenommene messianische Rolle sich offenbar als Trugschluss entpuppt hat. Als Dorf-Paria darf er unangenehme Arbeiten verrichten und erfüllt gleichzeitig eine Funktion als allgemeiner Sündenbock für die von ihm enttäuschten Einwohner. Trondheims Dekonstruktion des klassischen Heldenmythos geht hier sogar noch weiter: Die zu rettende Dorfgemeinschaft, vor allem verkörpert durch den Ältestenrat, ralph_azham1_01besteht aus zögerlichen, zutiefst selbstgerechten und egoistischen Individuen, denen man ihr Unglück gönnt, Ralphs mögliches Liebesinteresse in Gestalt der Dorfältestentochter Claire ist kein Lichtblick, sondern ein durchtriebenes und verlogenes Luder und seine doch nicht so beeindruckende „besondere“ Gabe beschränkt sich darauf, beginnende Schwangerschaften und zugleich den Vater des ungeborenen Kindes zu erkennen – was ihm letztendlich nichts als Ärger mit seinen scheinheiligen Mitbürgern einbringt. Mit dem Nahen der mörderischen Freischärler des verhassten (aber in den ersten beiden Bänden nicht in Erscheinung tretenden) „Vom Syrus“ wird eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt, die dazu führen, dass die Wahrheit übers Ralphs angebliches Versagen als Auserwählter ans Licht kommt und er sich doch noch in Richtung des Königssitzes Astolia aufmacht.

In Band 2 setzt Trondheim seine Erzählstrategie der enttäuschten Erwartungen konsequent fort: Ralph, Nervensäge Claire  und der kleine Raoul, ein Waisenjunge und weiterer möglicher Auserwählter aus ihrem Dorf, sind in einer Burg gelandet, die als Zwischenstation auf dem Weg nach Astolia und zugleich eine Art Sammelstätte für etwaige Auserwählte aus dem ganzen Land dient. Auf die Kinder, die sich wie Ralph und Raoul allesamt durch unübliche blaue Haarfarbe und nützliche bis skurrile übernatürliche Fähigkeiten auszeichnen, wartet jedoch ein ganz anderes, grausames Schicksal als der angenommene Eignungstest für Weltenretter. Da kommt Ralph zugute, dass er neben dem Schwangerschaftssehen jüngst noch eine zweite Fähigkeit entwickelt hat: Er kann die Geister von Ermordeten nicht nur sehen und mit ihnen sprechen, sondern es ihnen auch ermöglichen, zeitweilig materiell zu werden. Da Ralph auf überraschend viele Menschen mit einer mörderischen Vergangenheit trifft, eine mehr als nützliche Gabe …

Wie von vielen seiner Comics gewohnt, nutzt der hochproduktive Trondheim auch in diesem Fall das Gerüst einer ralph_azham2Genrestory als Ausgangslage für seine ganz eigene Schule des Erzählens, die weniger auf den Plot konzentriert ist, sondern hauptsächlich auf das ungeschönte Beziehungsgeflecht zwischen den Figuren, die teils herrlich lakonische Erörterung moralisch-philosophischer Fragen und zuweilen abstrusen schwarzen Humor. Derart seinen eigenen Erzählkonventionen folgend, garantiert Trondheim eine Geschichte voller nicht absehbarer Wendungen und Figuren, die in ihrem eigensinnigen und egoistischen Verhalten wahrscheinlich näher an der Realität sind, als manch einem lieb ist.

Dabei täuschen die auf den ersten Blick recht simplen, aber erstaunlich ausdrucksstarken vermenschlichten Tierfiguren und Trondheims perfektionierter markant-naiver Zeichenstil wie in Die erstaunlichen Abenteuer des Herrn Hase oder Donjon über die sehr erwachsene Natur der in Teilen recht brutalen und kompromisslosen Geschichte hinweg. Im Fall von Ralph Azham schlägt das Pendel sogar relativ stark in Richtung Ernsthaftigkeit und Tragik aus; der eingesetzte Humor ist meist von der bitter-sarkastischen Sorte. Ein wenig liegt hier auch der Schwachpunkt der Comicreihe: Der Zynismus, der sich durch die Geschichte zieht und mit dem sich Ralph wie mit einem Schutzschild gegen die feindlich gesinnte Welt umgibt, sorgt zwar für einige äußerst gelungene Dialoge und Situationen, aber zugleich hält Trondheims erzählerische Abgeklärtheit, die sich auch in der hohen Sterblichkeitsrate der Nebenfiguren äußert, den Leser auch auf einem gewissen Abstand zu den Figuren. Die ganz große Gefühlsnähe und damit Anteilnahme am Schicksal des Protagonisten lässt sich auf diese Weise nur schwerlich schaffen.

Ganz gleichgültig sind einem Wohl und Wehe des trondheimschen Antihelden, bei dem jeder Triumph offenbar mit einer Niederlage einhergeht, dann zum Glück aber nicht, scheint doch oft genug die verletzliche, menschliche Seite Ralph Azhams durch – was wiederum klar für das Können des Autors spricht. Trotz allem, was einen von dieser so unheroischen und nüchtern erscheinenden Fantasiewelt abstößt, möchte man wissen, welche überraschenden Stolpersteine und bizarre Wesen den weiteren Weg Ralph Azhams kreuzen und ob ihm ein (nach Trondheims Maßstäben) glücklicher Ausgang seiner Abenteuer vergönnt ist.

 

Wertung: 7 von 10 Punkten

Recht sarkastische und nüchterne, zugleich erfreulich unvorhersehbare Antihelden-Fantasy

 

Ralph Azham
Reprodukt
Text und Zeichnungen: Lewis Trondheim
Übersetzung: Ulrich Pröfrock
je 48 Seiten, farbig, Softcover
Preis: je 12 Euro 

Band 1: Belügt man jene, die man liebt?
ISBN: 978-3-941099-98-2
Leseprobe

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Band 2: Und am Anfang wartet der Tod
ISBN: 978-3-941099-98-2

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Abbildungen © Lewis Trondheim , der dt. Ausgabe: Reprodukt