Rezensionen

Paying For It (US)

Der folgende Text erschien zunächst im gedruckten Comicgate-Magazin 6 (Thema: Erotik in Comics). Nun liegt der besprochene Comic auch auf Deutsch vor, er erschien beim Verlag Walde & Graf unter dem Titel Ich bezahle für Sex. Aus diesem Anlass stellen wir die Rezension nun auch online zur Verfügung.

Cover Paying For It

Chester Brown lässt die Hosen runter – im wahrsten Sinne des Wortes. Sein „comic-strip memoir about being a john“ (so der Untertitel) ist das autobiographische Bekenntnis eines Comiczeichners, regelmäßiger Kunde von Prostituierten zu sein. Und zwar nicht von irgendeinem Comiczeichner! Bei uns ist der Kanadier zwar nicht sehr bekannt, trotzdem zählt er mit Werken wie Ed the Happy Clown, Fuck und Louis Riel zu den wichtigsten Vertetern jener Generation von Independent-Künstlern, zu denen zum Beispiel auch Daniel Clowes, Chris Ware oder Seth gehören. Das im Mai 2011 erschienene Buch über sein Leben als Freier wurde daher mit großer Spannung erwartet. Mit Recht: Paying For It ist nicht nur ein Blick in den sexuellen Alltag seines Protagonisten, sondern auch eine sehr ernsthafte Auseinandersetzung mit den Moralvorstellungen der Gesellschaft.

Eines ist der Comic ganz gewiss nicht: erotisch. Brown gestaltet seine Seiten betont nüchtern und spartanisch, hält sich an ein festes Raster von acht Panels pro Seite und ist stets bemüht, nie die Gesichter der verschiedenen Prostituierten zu zeigen. Die Erzählung beginnt im Jahr 1996, als sich seine Freundin von ihm trennt und er daraufhin zu der Erkenntnis gelangt, dass die klassische romantische Zweierbeziehung so gut wie nie funktioniert und praktisch immer zu Unglück, Streit und Missgunst führt. In Zukunft will Brown Liebe und Sex strikt trennen: Freunde und Familie liebt er im platonischen Sinne, die körperliche Liebe holt er sich auf dem Markt, auf dem sie gegen Geld angeboten wird. Und tatsächlich funktioniert diese Trennung für ihn sehr gut. Seine Besuche bei Prostituierten werden zur gewohnten Übung, und nach eigener Aussage ist er damit glücklicher als je zuvor.

Seite aus Paying For ItÜberaus ausführlich beschreibt Brown, wie der Alltag eines Freiers aussieht (unter den speziellen Gegebenheiten der kanadischen Gesetzgebung) und welche Gedanken vor, während und nach der Treffen in ihm vorgehen. Während Film, Fernsehen und Literatur die Prostitution meist entweder als verrucht-sinnliche, idealisierte Rotlichtwelt voller großartiger Sexgöttinnen oder als elenden Strich der Junkies und illegalen Einwanderer darstellen, lernen wir bei Brown ein ganz anderes Milieu kennen: ein überraschend normales, völlig unglamouröses, eigentlich ziemlich langweiliges Gewerbe, das auch nicht mehr oder weniger Tristesse verströmt als andere Dienstleistungsbranchen. Das ist mal witzig, mal verstörend, mal irritierend und mal fürchterlich traurig, vor allem aber ist es in all seiner Nüchternheit unheimlich gut erzählt. Der autobiographische Comic ist hier keine sentimentale Erinnerung an längst überwundene Peinlichkeiten der Jugend, sondern eine schonungslose Selbstentblößung, die den Leser in ihren Bann zieht und dazu zwingt, selbst Stellung zu beziehen.

Neben der Anbahnung und Durchführung der sexuellen Geschäftsbeziehungen sehen wir Chester Brown vor allem im Gespräch mit seinen Freunden und Kollegen, den ebenfalls nicht unbekannten kanadischen Zeichnern Joe Matt und Seth. Letzterer kommt im Anhang sogar noch selbst zu Wort, indem er ausgewählte Passagen aus seiner Sicht kommentiert. Überhaupt der Anhang: Auf 227 Comicseiten folgen weitere 50 Seiten mit Anmerkungen, in denen Brown seine spezielle Sicht der Dinge weiter vertieft, zum Beispiel indem er gängige Argumente, die gegen Prostitution sprechen, aufführt und zu entkräften versucht. Ob ihm dies gelingt, sei einmal dahingestellt. In seiner vehementen Ablehnung der „possessive monogamy“ und seinem Ideal von einer Welt, in der bezahlter Sex für alle eine Selbstverständlichkeit ist, macht Brown seine persönliche psychische Verfassung zur allgemeinen Norm. Man muss ihm hier nicht folgen, sondern kann es auch so sehen wie sein Freund Seth, der ihn wegen seiner sehr begrenzten emotionalen Bandbreite als „Roboter“ bezeichnet. Eine Szene, in der Chester und der bekennende Porno-Fan Joe Matt über romantische Liebe diskutieren, kommentiert Seth so: „Das ist so ähnlich, wie wenn zwei Blinde einen Sonnenuntergang malen“.

Egal, wie man zu den hier aufgeworfenen Themen steht: Paying For It ist wegen seiner ehrlich-direkten Offenheit und seinem ungewöhnlich sachlichen Umgang mit einem Tabuthema unbedingt lesenswert.


Wertung: 9 von 10 Punkten

Sowohl intimer Seelenstriptease als auch nüchterne Auseinandersetzung mit den Moralvorstellungen der Gesellschaft

 

Paying For It – a comic book memoir about being a john
Drawn & Quarterly, Mai 2011
Text und Zeichnungen: Chester Brown
272 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 24,95 US-Dollar
ISBN: 9781770460485
Leseprobe (PDF)

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DEUTSCHSPRACHIGE AUSGABE:
Ich bezahle für Sex – Aufzeichnungen eines Freiers

Walde + Graf, März 2012
Text und Zeichnungen: Chester Brown
336 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover
Preis: 22,95 Euro
ISBN: 978-3-03774-045-3
 Leseprobe

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Abbildungen © Chester Brown / Drawn & Quarterly