Rezensionen

Marvel Exklusiv 68: Daredevil – Dekalog

 Daredevil hat seinen Erzfeind, den Kingpin, der die kriminelle Szene im New Yorker Viertel Hell's Kitchen beherrscht, geschlagen und sich selbst zum neuen Kingpin erklärt. Seitdem ist ein Jahr vergangen, und diese Storyline soll erzählen, was in der Zwischenzeit passierte. Die Rahmenhandlung spielt im Keller einer Kirche, wo sich eine Art Selbsthilfegruppe von Leuten trifft, die mit Daredevil zu tun hatten. Da ist der Sohn eines Gangsters, der wegen Daredevil im Knast sitzt, da ist eine Frau, die Zeugin wurde, wie DD ihren Dealer-Freund aufmischte, da ist die Gattin eines Serienmörders und eine, die beinahe dessen Opfer wurde. Und da ist die Frau, die Trauzeugin bei Matt Murdocks Hochzeit war.

Sie alle berichten in Rückblenden von ihren Erfahrungen mit dem Superhelden. Und nur in diesen Rückblenden sehen wir, sparsam eingesetzt, kleine Action-Einlagen mit Kostümen. Diese kurzen Actionszenen spielen sich völlig „geräuschlos“ ab, also ohne Dialoge und Soundwords, was einen interessanten Verfremdungseffekt ergibt.

Ansonsten besteht „Dekalog“ zum Großteil aus „Talking Heads“, also aus langen Gesprächen zwischen den Protagonisten, mittlerweile ein Markenzeichen des Kreativteams Brian Michael Bendis und Alex Maleev. Wer sich daran stört, dürfte sich ohnehin längst von der Daredevil-Reihe verabschiedet haben. Der Rest weiß die Tatsache zu schätzen, dass er hier Superhelden-Kost der etwas anderen Art bekommt.

Die Storyline, deren Kapitel mit fünf der Zehn Gebote überschrieben sind, beginnt zunächst in kleinen, in sich abgeschlossenen Episoden, die in dem oben erwähnten Gesprächskreis erzählt werden, aber schon bald verknüpfen sich diese Erzählungen auf sehr spannende Weise. Im Mittelpunkt steht ein geheimnisvoller Dämon, eine Mischung aus Giftzwerg und Baby. Dieses übernatürliche Element passt leider nicht recht zu dieser Serie, deren Hauptmerkmal eigentlich ein realistisches Neo-Noir-Feeling ist. Auch die Verbindung zu den Zehn Geboten (Autor Bendis berief sich in Interviews auf sein großes Vorbild, den Filmemacher Krzysztof Kieślowski und dessen Dekalog-Zyklus) wirkt eher gezwungen. Außer auf den Titelbildern werden die Zehn Gebote nie erwähnt, und dort auch nur deren fünf.

Über diese kleinen Schwächen tröstet jedoch das hervorragende Storytelling hinweg. Bendis versteht es perfekt, Spannungsbögen aufzubauen, lange Dialogszenen mit knackigen Actionszenen abzuwechseln und eine beklemmende Atmosphäre der Angst und Unsicherheit, ja sogar ein gewisses Horror-Feeling zu erzeugen. Unterstützt durch den schroffen Strich von Alex Maleev und die düstere Farbgebung von Dave Stewart entsteht ein spannender, stimmungsvoller Mysterythriller, für den die Bezeichnung „Superheldencomic“ eigentlich total irreführend ist. Bendis und Maleev setzen damit ihren Daredevil-Run, der nun schon seit 45 (US-)Heften läuft, in den USA allerdings inzwischen beendet ist, konsequent fort.

Marvel Exklusiv 68: Daredevil – Dekalog
Marvel Deutschland/Panini Comics, Juni 2007
Text: Brian Michael Bendis
Zeichnungen: Alex Maleev
140 Seiten, farbig, Softcover; 16,95 Euro
Auch erhältlich als Hardcover; 25,- Euro

Eher düsterer Krimi als Superhelden-Story, echt lesenswert

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(Anmerkung: Die Rezension beruht auf der Lektüre der US-Originalausgaben)