Rezensionen

Marlysa 6

 

Marlysa 6 – Die LebensfrauSie trägt eine elegante Maske und ist so sehr Heldin, wie sie gut aussieht. Blond, lange Beine, schwellender Busen, und wenn sie ihre Klinge zieht, erlebt der Betrachter eine anmutige, akrobatische Zirkusnummer. Sie ist keine Kriegerin superheldischen Formats mit Muskelpaketen und immerwährender Coolness, sie ist vielmehr sehr weiblich und ihre viel zu großen, weit aufgerissenen Augen zeigen nicht ihre Entschlossenheit, sondern ihre Gutherzigkeit und ihr Einfühlungsvermögen. Sie heißt Marlysa und wurde von Jean-Charles Gaudin und Jean-Pierre Danard geschaffen. Doch bei den ersten, bei Carlsen auf Deutsch erschienenen Alben dieser Fantasy-Serie half Didier Crisse den Autoren noch bei den Storyboards. Und wenn man das Werk dieses Künstlers kennt, wundert man sich nicht über die überbetonte Attraktivität der Hauptfigur und ihre großen Augen …

„Die Lebensfrau“ ist der sechste Band der Serie um die maskierte Heldin, setzt die Kenntnis der ersten fünf Alben von Carlsen, die einen Erzählzyklus bilden, allerdings nicht voraus. Das behaupte ich zumindest, denn ich habe eine Lücke, die die Bände drei bis fünf umfasst, und ich hatte den Eindruck, der Handlung dieses sechsten Bandes recht gut folgen zu können. Ein Reiz der Serie ist das Geheimnis, das Marlysa unter ihrer Maske verbirgt und das in den Alben, die ich kenne, für den Leser nie gelüftet wird. Ansonsten warten die Abenteuer der Kriegerin mit vielen fantastischen Wesen, mysteriösen und magischen Ereignissen und finsteren Mächten auf, die das klassische Inventar der landläufigen Fantasy-Literatur zitieren und variieren.

Alles in allem ist die Welt Marlysas nett und beschaulich. Die Bösen sind freilich ziemlich unnett und die Abenteuer mitunter sehr gefährlich, aber die normale Bevölkerung ist ganz nach dem Bilderbuch geschneidert, die „Guten“ wechseln viele innige Blicke der Freundschaft mit großen Augen. Und so wird, vor allem in den Panels der frühen Bände der Serie, die Grenze zum Kitsch des Öfteren überschritten.

Doch trotz Nettigkeit und Kitsch gelingen Gaudin sehr schlüssige und spannende Plots, die den Leser auch über das eine oder andere zu weit aufgerissene Augenpaar und geschwellten Busen hinweg bei der Stange halten und unterhalten. In „Die Lebensfrau“ reist Marlysa zu einem Turnier, wird unterwegs aber Zeugin eines Überfalls auf eine Kutsche. Sie schreitet rettend ein und nimmt sich der überlebenden Passagierin an. Es ist eine uralte Greisin, die von den Söldnern des Grafen von Aklon gejagt wird. Während des Turniers in Campion kommt es zu einem neuen Überfall, der Marlysa beinahe das Leben kostet. Doch da taucht ein Helfer auf, der Druide Sitryen, der ihr das Geheimnis der alten Frau erklärt: Sie ist die prophezeite Lebensfrau, die sich innerhalb von sechs Tagen von einer Greisin in einen Säugling verwandelt. Als Säugling muss sie in die „Wiege“ gelegt werden, was aus irgendeinem Grund die Henkyafälle sind, damit die Herrschaft des bösen Grafen von Aklon ein Ende nimmt. Marlysa kämpft sich mit ihrer Schutzbefohlenen, die immer jünger wird, durch, stets auf der Flucht und immer nahe am Scheitern. Doch sie findet auch Unterstützung durch gute Menschen und anderen Wesen.

Prophezeiungen sind zwar klassisch, weil sie so schön biblisch sind, und ein Retter (gleich Heiland) wäre ja nicht er selbst, wenn er nicht angekündigt wäre – ganz zu schweigen, dass ein Herodes (gleich böser Graf von Aklon) ohne prophetische Herrschervorhersage gar keine spannende Heilandjagd veranstalten könnte -, doch als Handlungsmotivation erweisen sie sich häufig als mager. So auch in „Die Lebensfrau“. In der Bibel gibt es wenigstens noch einen personifizierten Willen, der hinter dem Heilsplan steht, Gott; die Prophezeiung von der Lebensfrau dagegen ist einfach da. Man weiß nicht, welche Macht oder Instanz den bösen Grafen zu Fall bringen möchte, wer die Lebensfrau in die Welt setzt, wer die Prophezeiung verkündet. Keine Gottheit, keine Naturmacht, kein Orakel. Nur ein Druide, der das eben weiß.

Doch das ist schon das einzige schwerwiegende Manko dieses Fantasy-Abenteuers und kann das Lesevergnügen kaum mindern, denn wer macht sich in einem spannenden Plot schon ständig Gedanken um göttliche oder nichtgöttliche Heilspläne? Und spannend ist der Plot. Souverän und ohne Hast oder Hänger wird die Handlung aufgebaut, werden die Parteien vorgeführt und wird die Lage zugespitzt. Und spätestens nachdem der Druide das Geheimnis um die Greisin gelüftet hat, galoppiert das Abenteuer von einer brenzligen Situation in die Nächste. Nicht immer ist Gewalt die Lösung, oft führen List und glückliche Zufälle zum Ziel. Marlysa schließt sich zum Beispiel einmal einer Gruppe Schauspieler an. Als die auf dem Marktplatz einer Stadt ein Stück vorführen, tauchen die Schergen des Grafen auf. Schnell wird ein drolliges Ablenkungsmanöver inszeniert, das von Geist und Heldentum zeugt und den beiden Frauen die Flucht ermöglicht. Nebenbei gelingt es Marlysa sogar, eine freundschaftliche Beziehung zu der Lebensfrau und zu einem Späher eines wilden, ziegenköpfigen Phantasievolks aufzubauen.

Die Bilder wirken im Vergleich zu den ersten beiden, mir bekannten Bänden, eleganter, gereifter – besser. Die Farben (von Angélique Césano) sind dezenter gesetzt, leichter und mitunter sehr stimmungsvoll. Die Frauenfiguren haben immer noch einen Hang zum „Schwellen“, haben insgesamt aber eine deutlich klassischere Form angenommen, so dass sich aller Kitsch, der sich noch in den Panels findet, in einem wohlgefälligen Rahmen bewegt. Einen angenehmen Zeitvertreib für die Sehnerven bereiten die wunderschönen Hintergründe: Burgen, Städte, Markt-, Opfer- und Turnierplätze, die sehr detailreich und fantasievoll dargestellt sind.

Und so muss ich gestehen, dass dieser Comic mir durchaus gefallen hat, und das, obwohl ich mittlerweile eine Aversion gegen Prophezeiungen im Fantasy-Genre habe und langbeinigen Frauen mit großen Augen in der Tradition eines Didier Crisse etwas stirnrunzelnd begegne. Und das will schon etwas heißen, oder?

Übrigens ist „Die Lebensfrau“ der erste Comic von Splitter, den man, wenn man möchte, im Verbund mit einer aufwändig gefertigten Figur der Titelheldin erwerben kann. Über die ästhetischen und sonstigen Qualitäten dieser Figur kann ich allerdings nichts sagen. Wenn der Splitter Verlag den Figuren allerdings ebenso viel Sorgfalt angedeihen lässt wie seinen Hardcover-Alben, dann dürfte die dreidimensionale Marlysa ihrer zweidimensionalen Variante an Attraktivität nicht nachstehen. Weitere Figuren zu anderen Serien sind übrigens geplant, wie man dem Katalog entnehmen kann.

 

Marlysa 6 – Die Lebensfrau
Splitter Verlag, Februar 2007
Text: Jean-Charles Gaudin
Zeichnungen: Jean-Pierre Danard
Farben: Angélique Césano
48 Seiten, farbig, Hardcover; 12,80 Euro
ISBN: 978-3-939823-28-5

Solides Fantasyabenteuer mit attraktiver, zuweilen kitschiger Heldin

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