Zuerst sieht alles ganz putzig aus: Eine junge Frau empfängt einen jungen Herrn, einen Prinzen, und bei einer Tasse Kakao findet eine zarte Annäherung statt. Die Figuren sehen niedlich aus, als wären sie Märchenbüchern für Kinder entsprungen, sie sind in fröhlichen Farben koloriert. Doch bald löst sich der Raum um sie herum auf, sie müssen fliehen und ein großes Splashpanel zeigt dem Leser, in welcher Behausung die netten Wesen gelebt haben: Sie sind winzig kleine Gestalten, und sie kommen aus dem Körper eines kleinen toten Mädchens gekrochen. Wie Gulliver liegt dieses Mädchen am Boden, im Vergleich zu den kleinen Lebewesen wirkt es wie ein Riese.
Jenseits lässt viele Fragen völlig offen: Wer ist das tote Mädchen? Wie ist es gestorben? Wo kommen die winzigen Menschlein her? Es sind noch viel mehr als die beiden anfangs erwähnten, in dem toten Mädchen haben Dutzende von Winzlingen gelebt. Nun sehen sie sich einer feindlichen Natur gegenüber, in der jedes Insekt, jede Maus und jeder Vogel schon aufgrund seiner Größe eine tödliche Bedrohung ist. Wenn sich der Leser nun auf einen Überlebenskampf „kleine Leute gegen die Wildnis“ einstellt, wird er schon zum zweiten Mal in die Irre geführt.
Denn das Zeichnerduo Kerascoët (d.i. Marie Pommepuy und Sébastien Cosset) und der Szenarist Fabien Vehlmann (Allein) wollen keine spannende Abenteuergeschichte erzählen, vielmehr geht es um menschliche Abgründe. In häufigen Szenenwechseln zeigen sie, wie sich die unterschiedlichen Angehörigen des kleinen Völkchens verhalten. Aurora, die junge Frau aus der Eröffnungsszene, fühlt sich verantwortlich für die Gemeinschaft, zu der auch viele kleine Kinder gehören. Sie versucht sich als organisatorische Leiterin und kümmert sich darum, dass jeder ein Dach über dem Kopf und etwas zu Essen abbekommt, während das tote Mädchen im Hintergrund langsam verwest.
Doch nicht jeder hat einen Gemeinschaftssinn wie Aurora. Manche ziehen sich lieber zurück und leben getrennt von der Gruppe, andere spinnen fiese Intrigen. Schon bald stellt sich heraus: Nicht die Natur ist der Feind dieser kleinen Menschen, sondern ihre kleinen Mitmenschen. Im Kampf um den eigenen Vorteil gehen die niedlichen Figuren von Kerascoët buchstäblich über Leichen. Das ist stellenweise witzig (wobei einem das Lachen meist im Halse stecken bleibt), oft aber auch erschreckend und verstörend. Im Original heißt das Buch Jolies Ténèbres, was man mit „Süße Finsternis“ übersetzen könnte. Und damit liegt man genau richtig.
So etwas hat man wirklich äußerst selten: Wirklich düstere Inhalte in putziger Bilderbuch-Optik, ein Kontrast, der beim Lesen eine Gänsehaut erzeugen kann. Wer Filme von David Lynch mag, Sinn für makabren Humor hat oder generell neugierig auf Abseitiges ist, wird in Jenseits einen neuen Lieblingscomic finden. Darüberhinaus lässt die Geschichte eine Menge Spielraum zum Interpretieren, Diskutieren und Wieder-Lesen.
Jenseits
Reprodukt, Oktober 2009
Text: Fabien Vehlmann (mit Marie Pommepuy)
Zeichnungen: Kerascoët
94 Seiten, Softcover, farbig, 18 Euro.
ISBN: 978-3-941099-30-2
Abbildungen: © Reprodukt