Die Märchen des Dichters und Volkskundlers Karel Jaromír Erben gelten als das tschechische Pendant zum Werk der Gebrüder Grimm. Die tschechische Comickünstlerin Lucie Lomová hat fünf böhmische Märchen von Erben als Comic adaptiert: „Der Lange, der Breite und der Scharfsichtige“, „Verstand und Glück“, „Zwillinge“, „Knüppel rühr dich“ und „Der Nimmersatt“.
Im ersten Märchen muss ein Prinz die Aufgaben eines Zauberers lösen, um eine Prinzessin zu befreien. Dafür erhält er die tatkräftige Unterstützung des „Langen“, des „Breiten“ und des „Scharfsichtigen“. Die übernatürlichen Fähigkeiten erinnern unausweichlich an die amerikanischen Comicsuperhelden: So hat der „Lange“ zum Beispiel ähnliche Fähigkeiten wie der Superheld Dr. Reed Richards alias Mr. Fantastic aus der Serie Die Fantastischen Vier. Oder der „Scharfsichtige“: er muss seine besonderen Gaben seiner Augen ähnlich wie Cyclops von den X-Men durch eine Augenbinde abdecken. Und sein röntgenartiger, alles erfassender Blick erinnert unweigerlich an Superman. So liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die Superheldenerfinder bei diesem böhmischen Märchen abgekupfert haben.
Die zweite Geschichte müsste eigentlich „Verstand gegen Glück“ anstatt „Verstand und Glück“ heißen. Denn in diesem Märchen wetteifern die personifizierten Abstraktionen um den besseren Einfluss bei einem Bauer. Der „Verstand“ bringt den Bauer zunächst an den königlichen Hof, jedoch endet dessen Erfolg fast mit dem Tod. Aber das „Glück“ kann schließlich auch noch eingreifen. Im dritten Märchen trennen sich Prinzen-Zwillinge, um ihr Glück auf eigene Faust zu erobern. Einer heiratet eine Prinzessin, wird bei einem nächtlichen Streifzug aber aufgrund seiner Neugierde das Opfer einer Hexe, die ihn zu Stein verzaubert.
„Knüppel rühr dich“ ist die Geschichte eines armen Mannes, der alles verkauft und fortan auf die Barmherzigkeit Gottes vertraut. Nachdem er magische Geschenke eines Schäfers, die ihn aus seiner Misere befreit hätten, leichtfertig verspielt hat, weiß der Schäfer doch noch einen Ausweg, wie der leichtsinnige Arme doch noch zu seinem Glück kommt. In „Nimmersatt“ erlebt ein Paar, das sich ein Kind ersehnt, sein blaues Wunder, nachdem der Mann seiner Frau einen kindsähnlichen Baumstumpf geschenkt hat, der zum Leben erwacht.
Lomová verwendet für ihre Märchenadaptionen einen neutralen Erzähler, der in knappen Erzähltexten und nur selten die Panels als Allwissender kommentiert. Ansonsten erzählen die Protagonisten der Märchen durch ihre Gedanken- und Sprechblasen das Geschehen. Die Kapitel werden durch ganzseitige Panels eingeleitet, ansonsten dominieren aber mittelgroße Panels, die in Form und Größe abwechslungsreich variiert werden. Die Comickünstlerin zeichnet und koloriert ihre Illustrationen im typischen Ligne-Claire-Stil. Die Farben, höchstwahrscheinlich aquarelliert, sind hell und lassen leichte Nuancen erkennen.
Es sind geistreiche und fantasievolle Märchen, die Lomová gekonnt in die Sprache der Comics übertragen hat. Der Ligne-Claire-Stil ist Geschmackssache, passt aber zu den moralisch eindeutigen Aussagen der Märchen. Salleck präsentiert diesen tschechischen Import als Hardcoverausgabe mit einem Anhang über den „größten tschechischen Märchensammler“. Das Bonusmaterial umfasst eine biographische Skizze von Lomová über Erben, Illustrationen zu Erbens Märchen von anderen Künstlern, eine Abbildung eines Manuskripts sowie ein gezeichnetes Porträt des Ethnographen.
Goldene Böhmische Märchen
Práh 200, in Deutschland erhältlich via Salleck Publications
Text und Zeichnungen: Lucie Lamová
Hardcover, 96 Seiten, farbig, 14 Euro
ISBN 978-80-7252-226-2