Rezensionen

Finder 8 – Five Crazy Women (US)

finder8Magri White hat einen ungewöhnlichen Beruf. Durch eine Datenverbindung zu seinem Gehirn gewährt er Besuchern Zutritt zu einer fantastischen Welt, an der er seit seiner Kindheit baut. Und er ist erfolgreich damit: Sein Publikum bezahlt gutes Geld, um in seinem Innenleben auf Entdeckungsreise zu gehen.

Carla Speed McNeil, Magris Erfinderin, weiß, wovon sie schreibt. Die amerikanische Comicautorin, die seit 1996 ihre Comics im eigenen Verlag „Lightspeed Press“ veröffentlicht, tut etwas ganz Ähnliches wie Magri. Zwar kann man sich nicht direkt in ihren Geist einklinken, doch auch McNeil erschafft in ihrer „anthropologischen Science-Fiction-Serie“ Finder eine ganz eigene Welt. Diese macht sie als Webcomic den Lesern zugänglich, veröffentlicht aber auch gedruckte Sammelbände. Der achte, „Five Crazy Women“, ist vor kurzem erschienen.

finder_dreamsequence11.jpg Auf den ersten Blick sieht diese Welt manchmal fast so aus wie unsere. Die Menschen dort sprechen praktisch so wie wir, leben in relativ normalen Wohnungen, tragen normale Kleidung, gehen sogar manchmal einem recht alltäglichen Job nach. Doch je länger man weiterliest, desto häufiger tauchen Dinge auf, die irritieren: der sprechende, gefiederte Saurier, der an der Universität lehrt. Das Mädchen, das an einer renommierten Schule eine Ausbildung zur Prostituierten macht. Der Clan, in dem alle, Frauen wie Männer, aussehen wie Marilyn Monroe. Selbstreplizierendes Fernsehunkraut und ein „Schmerzmuseum“. Oder eben auch Magri und sein touristisch verwertetes Innenleben.

Schaut man dann in die am Ende eines jeden Bandes versammelten Fußnoten – vielleicht, um irgendeins der seltsameren Details besser zu verstehen -, so eröffnen sich Einblicke in Land und Leute, deren Fremdartigkeit schwindeln macht. In gewisser Weise erwecken die Fußnoten die Welt von Finder erst richtig zum Leben: Sie machen deutlich, dass praktisch alles, was man hier sieht, seine eigene Geschichte hat. Carla Speed McNeil, so fühlt man, kennt ihre Welt in- und auswendig.

Spike, eine andere Weltenbauerin im Comicgeschäft, sagt über ihre erfundene Stadt Templar: „Wenn euch etwas komisch vorkommt, bedenkt, dass ihr bloß Touristen seid. Wenn ihr euch nicht zumindest ein wenig fremd vorkämt, wärt ihr vermutlich enttäuscht.“ Diesen Satz würde wohl auch Carla Speed McNeil unterschreiben. Finder zu lesen macht uns zu Touristen in einer Welt, die oft unserer eigenen sehr ähnelt, um uns dann plötzlich im wahrsten Sinne des Wortes zu befremden. Und genau in diesen plötzlichen Momenten der Entdeckung und des Staunens liegt der Reiz der Reise.

Das Fantastische der Welt von Finder wird dabei in einem Zeichenstil transportiert, der unerwartet einfach, manchmal fast cartoonhaft, ist. McNeils expressive Zeichnungen konzentrieren sich meist auf das Wesentliche, besonders, wenn es um die Darstellung des menschlichenKörpers oder von Gesichtsausdrücken geht. Manchmal können sie aber auch kleinteilig-detailverliebt, chaotisch vollgestopft und geduldig mit feinster Feder schraffiert sein. Eine besondere Stärke McNeils sind unkonventionelle Seitenaufteilungen und der kreative Einsatz von Schrift als Bildelement. Es sind gerade die vollgestopft-unübersichtlichen Seiten, auf denen sich Sprachfetzen mit Welt- und Plotfragmenten zu einem wilden Flickenteppich verbinden, die die Lebendigkeit der Welt von Finder greifbar machen.

finder_fivecrazywomen10 Trotz der Fantastik dieser Welt mit ihrer Science Fiction-Technik und ihrer seltsam unspektakulären Magie werden diese Elemente selten direkt thematisiert. Sie stellen lediglich einen alltäglichen Teil der Lebensumwelt der Protagonisten dar. Die Dramen, die McNeils Helden durchleben, sind meist von großer Universalität. Es geht um verkorkste Familien, das Erwachsenwerden, das Verhältnis zwischen Kunst und Realität, den Zusammenprall unterschiedlicher Kulturen … und immer wieder um Jaeger Ayers, den „Finder“, nach dem der Comic benannt ist, und die Menschen, deren Weg er kreuzt. Womit wir zu einem weiteren wichtigen Reiz von Finder kommen, nämlich Jaeger selbst.

Anschluss suchend und einzelgängerisch, unbeschwert und getrieben, roh und sensibel – Jaeger ist ein Bündel von Widersprüchen. Es steckt ein wenig Wolverine in ihm und ein wenig von Spider Jerusalem, und auch mit den Trickster-Figuren indianischer Mythologien verbindet ihn einiges.

finder_fivecrazywomen26 Jaeger ist ein Halbblut, weder ganz der „Zivilisation“ der Städte noch den außerhalb der Städte lebenden Nomaden zugehörig. Obwohl er sich den Nomaden verbundener fühlt, akzeptieren diese ihn nur in der Rolle eines rituellen Sündenbocks. Doch auch in den Städten bleibt Jaeger ein Außenseiter, denn er gehört zu keinem der genetisch streng voneinander abgegrenzten Clans und weigert sich, sich dem seßhaften Lebensstil anzupassen. Er hasst jede Form moderner Technik und verdient sich mitunter sein Geld damit, dass er frustrierte Nutzer derselben mit Hilfe eines großen Hammers von den verhassten Objekten befreit. Doch bei aller Verachtung für die Lebensweise der Städter kann er ohne die Städte nicht leben – schon allein deshalb, weil er nur dort „normale“ Beziehungen zum anderen Geschlecht haben kann, denn unter den Nomaden gilt er als Unberührbarer.

Dieses Thema, also Jaegers nicht ganz einfache Beziehungen zum anderen Geschlecht, behandelt McNeil im neuesten Finder-Sammelband. Eingebettet in eine Rahmenhandlung, die Einblicke in Jaegers Beziehung zu seinem ältesten Freund gewährt, erleben wir eine Reihe von Begegnungen zwischen Jaeger und verschiedenen Frauen. Das Resultat ist manchmal amüsant, manchmal sexy, manchmal bestürzend und manchmal einfach nur bizarr, und verrät uns vielleicht mehr über McNeils geheimnisvollen Protagonisten als alle anderen Bände zuvor.

finder_talisman08 Auch hier bleibt an vielen Stellen ein dem Kulturschock verwandtes Irritationsgefühl. McNeil gibt uns selten sämtliche Puzzlestücke in die Hand. Einige ergänzt sie später in Fußnoten, einige kann man mit etwas Scharfsinn, Fantasie oder Vorwissen selbst ergänzen, und einige bekommt man Jahre später in einer anderen Story geliefert. Und manches bleibt ganz einfach rätselhaft. Finder zu lesen heißt immer auch mit Ungewissheiten und Leerstellen zu leben. Doch für abenteuerlustige Leser, die das Abenteuer als eine Reise mit ungewissem Ausgang begreifen, gibt es in Finder viel zu entdecken.

Das sind wohl auch die Entscheidungsträger, denn Finder hat schon jede Menge Preise gewonnen bzw. war für sie nominiert:

Friends of Lulu Awards:
1998: Kim Yale Award for Best New Talent
2001: Lulu of the Year
2002: Lulu of the Year

Ignatz Awards:

1998: Promising New Talent
2001: Outstanding Artist, Outstanding Series (nur nominiert; keine Verleihung wg. 9/11)
2004: Outstanding Series
2005: Outstanding Series

Eisner Awards:
2001: Best Single Issue (nur nominiert)
2002: Best Single Issue, Best Serialized Story, Best Continuing Series, Best Writer/Artist (alle nur nominiert)
2003: Best Serialized Story, Best Writer/Artist (nur nominiert)
2004: Best Single Issue or One-Shot (nur nominiert)

Neue Seiten der aktuellen Storyline von Finder werden dienstags und donnerstags auf www.lightspeedpress.com veröffentlicht, wo man auch die ersten Kapitel von vieren der Sammelbände online lesen kann. Die Sammelbände und verbliebenen Einzelhefte können dort bestellt, aber auch ganz normal über den Comichandel bezogen werden. Die einzelnen Bände sind, abgesehen vom zweiten Band, der eine direkte Fortsetzung des ersten ist, unabhängig voneinander.

Finder 8: Five Crazy Women (US)
Lightspeed Press 2006
Text und Zeichnungen: Carla Speed McNeil
127 Seiten, s/w, Softcover; 15,95 US-Dollar
ISBN: 0967369177

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Bildquelle: lightspeedpress.com