Rezensionen

Die Blueberry-Chroniken 4

Cover Blueberry-Chroniken 4 Der vierte Band der Blueberry Chroniken, „Das eiserne Pferd und die Sioux“, ist der bisher umfangreichste der Reihe. Er vereinigt gleich vier Alben statt der drei Stück, die in den Vorgängerbänden jeweils enthalten waren. Das erfreut nicht nur deshalb, weil man für dasselbe Geld satte 206 Seiten Comic bekommt statt 160, sondern auch, weil damit ein Erzählzyklus kompakt in einem Band präsentiert wird. Dieser vierte Teil der Chroniken lässt sich somit wunderbar auch ohne Kenntnis der Vorgänger genießen und ist handlungsmäßig so weit abgeschlossen, dass die Lektüre nicht zur Anschaffung der Folgebände verpflichtet. Wer also mal in die Blueberry Geschichten reinschnuppern möchte, ist mit diesem Wälzer bestens bedient.

Die Handlung dieser vier Alben kreist um den Bau der transkontinentalen Eisenbahn, einem Milieu, in das das Zusatzmaterial zu Beginn des Bandes mit Text und Bild einführt. Und das durch viele andere Comics – vor allem Lucky Luke -, Bücher und Filme recht geläufig ist: der erbitterte Wettkampf der konkurrierenden Gesellschaften Central Pacific und Union Pacific. In diesen Wettkampf werden in „Das eiserne Pferd und die Sioux“ ebenjene, die Sioux, samt ihren Nachbarn, den Cheyenne, hineingezogen.

Die Plots der einzelnen Alben gehen ungefähr so:

„Das eiserne Pferd“
Blueberry bekommt den Auftrag, die Streitigkeiten der Eisenbahngesellschaft Union Pacific mit den Cheyenne und Sioux zu schlichten. Er stellt fest, dass die Indianer durch gezielte Provokationen zu einem großen Krieg angestachelt worden sind. Im Camp trifft er den unlauteren Steelfingers, der, wie sich herausstellt, ein Agent der Konkurrenz, der Central Pacific, ist. Steelfingers wird verhaftet, kann sich aber wieder befreien. Und als Blueberry die Häuptlinge Red Cloud und Sitting Bull zu Verhandlungen trifft, taucht der Ganove auf, um alle Bemühungen um Frieden unwiederbringlich zunichte zu machen.

„Steelfingers“
Blueberry bekommt von General Dodge, der das Baucamp der Union Pacific leitet, den Auftrag, sich nach Julesburg durchzuschlagen und dort um Hilfe zu bitten. Leider hat sich auch die korpulente Schauspielerin Guffie mit ihrer Truppe auf den Weg aus dem Camp und in das Gebiet der kriegerischen Indianer gemacht. Und so muss Blueberry erst mal Guffies Gruppe retten. In der Not sendet er die Geretteten mit einem Brief nach Julesburg, während er selbst die Indianer auf eine falsche Spur lockt. Doch der Brief wird von Steelfingers abgefangen. Der nutzt die gewonnenen Informationen, um einen schurkischen Plan auszutüfteln, den erbetenen Versorgungskonvoi auszurauben. Für den Überfall verbündet er sich mit den Indianern, denn die sind scharf auf die Gewehre, die in dem Zug sein sollen. Steelfingers dagegen hat es auf die 300 000 Dollar, den ausstehenden Sold für die Arbeiter im Camp, abgesehen.
Als Blueberry in Julesburg ankommt, ist der Konvoi bereit und macht sich auf den gefährlichen Weg. Der geplante Überfall findet statt und gelingt bis auf den Umstand, dass die Waffen in einer Explosion in die Luft gehen, und dass Blueberry mit dem Geld entkommt und es an einem geheimen Ort vergräbt.

„Die Fährte der Sioux“
Blueberry hat schlechte Karten: Erst ist er Gefangener von Steelfingers und den Indianern, dann kommt er in Julesburg ins Kittchen, weil man ihm vorwirft, die Lohngelder geraubt zu haben, während in Wahrheit Steelfingers mit der Kohle abzuhauen gedenkt. Wie meistens entgeht er verschiedenen Arten des Todes nur knapp. Doch schließlich wird er von Sitting Bull gerettet, der als Entlastungszeuge auftritt. Die Indianer vertrauen dem Leutnant und sind zu Friedensverhandlungen bereit. So könnte sich alles noch zum Guten wenden. Doch zurück in Julesburg erwartet Blueberry der ehrgeizige und verblendete General Allister, der ihn zwangsrekrutiert, zum Schweigen verdammt und statt Friedensverhandlungen eine Offensive gegen die Indianer eröffnet.

„General Gelbhaar“
Im Winter macht sich der egozentrische General mit seiner Armee in die Gebiete der „Rothäute“ auf, um ihre wehrlosen Lager zu überfallen. Blueberry ist gezwungen, dabei mitzumachen. Seine Lage ist unerträglich; er versucht, die Indianer zu schonen oder zu warnen, gleichzeitig möchte er aber seine eigenen Leute vor dem Leichtsinn und der Unfähigkeit des Generals schützen, der ihn mehrmals zu aussichtslosen Himmelfahrtskommandos verdonnert. Doch am Ende tragen Blueberrys Bemühungen allesamt Früchte und der Feldzug kann beendet werden.

Szenarist Jean-Michel Charlier ist mit diesem Band auf der olympischen Höhe seiner Kunst angekommen. Immer noch wird im Text ein bisschen zu viel erklärt, was man auch in den Bildern zeigen könnte, und immer noch droht die Sprache bisweilen in Adjektiv-Fluten zu ersticken – eine stilistisch den Traditionen des Abenteuercomics geschuldete Erzählweise -, aber insgesamt sind die Dialoge schon viel organischer und das Tempo stark angezogen. Man merkt deutlich, wie sich die Serie von den herkömmlichen, heute oft sehr behäbig wirkenden Abenteuercomics der Sechzigerjahre löst und ganz leicht in Richtung Subkultur abdriftet.

Da haben wir längst keinen gehorsamen Leutnant der amerikanischen Armee mehr vor uns, sondern einen unrasierten Dickkopf, Idealist und Eigenbrötler, der sich mit Indianern und herunter gekommenen Gestalten zusammen tut. Blueberry trifft viel zu viele eigenmächtige Entscheidungen, ist viel zu verschwitzt und verwahrlost, um noch ein braver Comicheld der alten Schule zu sein.

Charlier kombiniert die historische Realität des Eisenbahnbaus geschickt mit Indianerkriegen und den Umtrieben der fiktiven Ganoven und der an G. A. Custer (1839 – 1876) angelehnten Figur des Generals „Gelbhaar“. Erstaunlich ist vor allem auch sein langer Atem, der den Spannungsbogen über vier Alben und über etliche vorläufige Auflösungen hinweg zu halten vermag. Kein anderer – das wurde bereits in der Rezension zum dritten Band der Chroniken gesagt – versteht es so meisterhaft, brenzlige Situationen herbeizuführen, die erst durch eine Kette oft noch brenzligerer Situationen gelöst werden können.

Darüber hinaus präsentiert Charlier in diesem Zyklus zwei sehr gelungene Bösewichter, Steelfingers und General Allister, von denen hauptsächlich letzterer ein Kabinettstück darstellt: Seine Indianerjagd ist nämlich nicht in erster Linie von schnödem Hass motiviert, wie man erwarten könnte, sondern vielmehr von der Gier nach einem vorzeigbaren militärischen Erfolg. Arroganz und Dummheit runden den Charakter perfekt ab. Der erste Auftritt Guffies ist – ganz nebenbei bemerkt – übrigens ebenfalls bemerkenswert.

Auch und vor allem zeigen die Bilder, dass der Zeichner Jean Giraud ebenfalls auf der Höhe seines Schaffens angekommen ist. Freilich sollen ihm in späteren Bänden und in seiner zweiten Identität als Moebius noch bessere Arbeiten gelingen, aber dennoch beweisen diese Bilder hier, dass er seinen eigenen Stil gemeistert hat. Und sie sind mitunter umwerfend. In den Actionszenen sprühen sie vor Dramatik und Spannung, das Licht-und-Schatten-Spiel ist großartig, die Figuren sind schier unglaublich in ihrer Plastik, in ihrem Abwechslungsreichtum, ihrer Tiefe und Vielschichtigkeit. Die Landschaften geraten häufig schlicht atemberaubend und die Hintergründe sind so detailliert und wirkungsvoll, dass man meint, man könne sich durch den Comic riechen und fühlen: triefender Regen, brennende Sonne, Zigarettenqualm, Schweiß, Blut, rauchende Colts.

Oft sind – wie nicht anders zu erwarten – schon die ersten, großformatigen Eingangspanels der einzelnen Alben ein Augenschmaus. Ganz besonders faszinierend aber ist die Grafik des vierten Albums „General Gelbhaar“. In der verschneiten, bergigen Winterlandschaft realisiert Giraud hier Bilder von unheimlich dichter Atmosphäre. Indianerscouts im Schneegestöber, das am vereisten Fluss still liegende Tipidorf, Indianer, die durch ein weißes Nirgendwo galoppieren. Und dann umso kräftiger im Kontrast die düstere, rot glühende Explosion einer Versorgungskutsche in der Nacht, was für ein toller Effekt! Oder Flammen im Schneegestöber. Dann die winterlichen Abendstimmungen, und alles immer wieder kontrastiert mit Szenen voller Bewegung und Gewalt, von denen vor allem das Bild ergreift, auf dem eine Squaw zu sehen ist, die von einem Kanonenschuss vom Pony gerissen wird: Ihre Haare fliegen waagrecht und verdecken ihr Gesicht. So viel Bewegung und Drama in ein Bild gepackt!

Genug geschwärmt. Zur Aufmachung: Die neue Übersetzung und vor allem das Lettering erfrischen die Lektüre ungemein. Und sie bieten den ganzen Text, während in den bisherigen Alben häufig gekürzt und zusammen gestrichen worden war. So haben zum Beispiel die „Animierbetriebe“ – was für ein schönes Wort! – gleich auf der ersten Seite in dieser Ausgabe ihren ersten Auftritt, da sie in der alten unterschlagen wurden. Wie konnten wir ohne sie nur die ganzen Jahre leben?

Mit der Kolorierung verhält es sich ähnlich, sie erfreut nicht nur durch ihre Frische und Kraft, sondern sie bringt die Brillanz und Dramatik der Zeichnungen auch klarer zur Geltung als die bisherige, oft etwas ermattete Variante, die häufig verunklarte. Ich habe die bisher erhältlichen Alben sehr gemocht, aber ich bin überaus dankbar für diese sorgfältige Neuausgabe des Meisterwerks, denn sie bereitet tatsächlich ein gesteigertes Lesevergnügen.

Im gerade erschienenen fünften Band der Blueberry-Chroniken werden erstmal die Abenteuer des Marshall Blueberry erscheinen, die viel später entstanden, von Giraud nur getextet und von William Vance und Michel Rouge gezeichnet sind. Dann aber müsste es mit dem Zweiteiler über die Jagd nach einer verlassenen Goldmine weiter gehen, die direkt im Anschluss an die Geschichten aus Band vier entstanden sind, einem der absoluten Höhepunkte der Serie. Gespannt darf man übrigens auch darauf sein, den 300.000 Dollars wieder zu begegnen. Typisch für Charlier, dass er lose und vermeintlich abgeschlossene Handlungsenden immer wieder aufnimmt und weiter spinnt.

Ein glücklicher Rezensent harrt freudestrahlend der Fortsetzung!!

Die Blueberry-Chroniken 4: Das eiserne Pferd und die Sioux
Ehapa Comic Collection, Januar 2007
Text: Jean-Michel Charlier
Zeichnungen: Jean Giraud
206 Seiten; farbig, Hardcover; 29,- Euro
ISBN: 978-3-7704-3051-2

Hochspannendes Meisterwerk

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