Rezensionen

Die 90. Minute

Gestern traf im WM-Halbfinale die deutsche Mannschaft mal wieder auf Italien. Ein Fußball-Klassiker, diese Begegnung. Vor allem, wenn man Menschen fragt, die schon die WM 1970 in Mexiko bewusst miterlebten. Das damalige Halbfinale, bei dem die Italiener in der Verlängerung gewannen, gehört für viele zu den besten WM-Partien der Geschichte. Und wer es gesehen hat, wird sich noch erinnern, wo das war und wie er es erlebt hat. So wie Andreas Austilat: Der war damals 13 Jahre alt und musste etliche Tricks anwenden, um etwas vom Spiel mitzubekommen. Denn eigentlich sollte er längst schlafen.

Es ist die subjektive Erinnerung an große Fußballspiele, die Die 90. Minute besonders macht. Fünf Spiele, die jeweils erst ganz kurz vor dem Abpfiff entschieden wurden, werden hier nicht neutral wiedergegeben (Wozu auch? Dafür bräuchte man wirklich keinen Comic!), sondern mit ganz persönlichen Erinnerungen der Erzähler verwoben, die diese Spiele als Zuschauer verfolgten. Einzige Ausnahme ist das Spiel FC Bayern – Hansa Rostock (Saison 2000/2001), von dem nicht aus Zuschauersicht erzählt wird, aber trotzdem sehr subjektiv: nämlich aus der Sicht von Torwart Oliver Kahn, der im Endpurt der Partie den Ball persönlich ins gegnerische Tor bugsierte – mit der Faust.

Die Autoren dieser Fußball-Erinnerungen sind nicht ganz unbekannte Journalisten: Andreas Austilat schreibt für den Tagesspiegel, Philipp Köster ist Chef des Magazins 11 Freunde, Matthias Kalle leitet die zitty-Redaktion und Christoph Amend ist Leiter des „Leben“-Ressorts der Zeit. Ihre Geschichten setzt Zeichner Sascha Dreier in Comics um. Dreier hat den kantigen Strich eines Karikaturisten, ausdrucksstarke Gesichter, die man wiedererkennt, sind seine Stärke. Die Bewegungsabläufe seiner Fußballer wirken meist ein bisschen ungelenk, das macht Dreier aber mit einer großen Liebe zum Detail wieder wett: Von den Trikots bis zu den Stadien, hier stimmen alle Einzelheiten.

Neben den zwei bereits erwähnten Spielen enthält der Band Erinnerungen an die Bundesliga-Partie Bielefeld gegen 1860 München (Saison 1980/81), das UEFA-Cup-Achtelfinale Dortmund gegen La Coruna (1994) und das legendäre Saisonfinale 2001, als Schalke 04 für fünf Minuten Deutscher Meister war, bis Patrick Anderson in Hamburg ein Tor für den FC Bayern schoss. Die Geschichten sind mehr als pure Nostlagie, kein bloßes „Weißt du noch?“. Aus ihnen spricht die Liebe zum Spiel, die Faszination einer Sportart, die in manchen Momenten große Dramen schreiben kann. Und deshalb ragt Die 90. Minute auch heraus aus der unglaublichen Flut von Bucherscheinungen zur WM. Das hier ist kein schnelles Produkt, das mal eben auf einer Welle mitschwimmt. Das Buch funktioniert ganz unabhängig von dieser WM und kann auch in einigen Monaten noch genauso gut gelesen werden wie heute. Für Fußball-Muffel ist das natürlich nichts, man sollte das Interesse der Macher am Thema schon teilen. Dann aber wird es nicht lange dauern, bis der Funke überspringt.

Und falls Sascha Dreier neue legendäre Fußball-Dramen sucht, die er verarbeiten kann: Seit gestern ist die Geschichte wieder um eins dieser denkwürdigen Spiele reicher.

Die 90. Minute. Dramatische Fußballgeschichten
Tropen-Verlag
Zeichnungen: Sascha Dreier
Texte: Andreas Austilat, Philipp Köster, Matthias Kalle, Christoph Amend, Sascha Dreier
128 Seiten; farbig; 14,80 Euro
ISBN:  3-932170-79-2

Bildquelle: tropen-verlag.de