Rezensionen

Ausgetrickst

 Schon mit seinem ersten umfangreichen Comicroman Box Office Poison errang Alex Robinson reichlich Lobeshymnen und Nominierungen für Comic-Preise. Mit dem Nachfolgewerk Tricked zeigte er 2005, dass er keine Eintagsfliege ist. Während Box Office Poison noch nicht auf deutsch veröffentlicht wurde, bringt Edition 52 Robinsons Zweitwerk unter dem deutschen Titel Ausgetrickst auf den Markt. Ein hervorragender Comic, finden sowohl Benjamin als auch Thomas und nehmen den Band in einer gemeinsamen Rezension unter die Lupe.

Thomas: Ausgetrickst ist eine dicke, 350 Seiten starke Graphic Novel in schwarzweiß, an der man einige Zeit zu lesen hat. Robinson beginnt mit sechs Handlungssträngen, die anfangs noch gar nichts miteinander zu tun haben, aber schon bald aufeinander zulaufen und im Verlauf der Geschichte immer mehr zusammenwachsen.

Benjamin:
Wobei die Erzählstränge jeweils einer der sechs Hauptpersonen gewidmet sind. Es sind dies ein Rockstar, ein Fälscher, eine Büroangestellte, eine Bedienung in einem Diner, eine verlorene Tochter und ein fanatischer Musikfan. Das heißt, obwohl jeder seine eigene Geschichte besitzt, kreuzen sich ihre Wege, die einen begegnen sich früher als andere, aber in jedem Fall sind ihre Schicksale miteinander verbunden.

Zugegeben, Ausgetrickst ist für eine Comicerzählung ganz schön in die Länge gezogen und es dauert schon einige Zeit, bis man das Buch durchgelesen hat. Umso erstaunlicher war es für mich, wie intelligent Alex Robinson kleine und große Verknüpfungen strickt und mich damit doch völlig begeistert am Ball bleiben ließ. Also ich muss sagen, das ist nicht nur von der Seitenzahl her ganz groß, oder?

 Thomas: Absolut. Denn in Ausgetrickst steckt eine ganze Menge drin. Ich würde nicht behaupten, es sei „in die Länge gezogen“. Statt von „Länge“ würde ich eher von „Tiefe“ sprechen. Ausgetrickst ist nie langweilig, was auch daran liegt, dass ein einzelnes Kapitel immer nur wenige Seiten lang ist und man sehr schnell wieder zum nächsten Handlungsstrang springt. Aber die Länge des Buches gibt Alex Robinson Gelegenheit, seine Charaktere wirklich dreidimensional zu machen. Wir lernen die sechs Hauptprotagonisten wirklich kennen und selbst einige Nebenfiguren bekommen erstaunlich viel charakterliche Tiefe.

Benjamin: Die sechs Protagonisten sind so vielschichtig angelegt, dass man sich gut reinfühlen kann, oft sich sogar wiederfindet. Und das ist bei diesen komplexen Persönlichkeiten wahrlich kein einfacher Prozess. Zudem wird man von der Story unweigerlich mitgerissen, die Kapitel sind von 50 an rückwärts durchnummeriert, was die Wirkung des sich auch inhaltlich ablaufenden Countdowns bzw. das Hinauslaufen auf den Showdown noch verstärkt. Besonders gelungen finde ich die Darstellungen von Ray Beam, dem berühmten Musiker in der Schaffenskrise und Ex-Mitglied der Band „The Tricks“, sowie dem Büroangestellten Steve, der besessener Fan jener Band ist und missmutig durchs Leben geht. Beide sind schon zu Beginn des Bandes sowas die die tragischen Gestalten, deren Entwicklung dann aber völlig konträr laufen soll. Überhaupt hängt Ray Beam aus meiner Sicht mit den meisten Geschehnissen zusammen, ihm gegenüber steht der völlig neurotische, Ray-verehrende Steve.

Thomas:
Ja, Ray Beam ist vielleicht die wichtigste Figur von Ausgetrickst. Wenn sich die Fäden im Verlauf der Handlung mehr und mehr zusammenziehen, steht er im Zentrum, die Fäden ziehen sich quasi um ihn herum. Allerdings ist Ray Beam nicht gerade die originellste von Robinsons Figuren. In ihm stecken zahlreiche Rock-Klischees. Geniale Musiker, die mit ihrer Band einen Senkrechtstart hatten, sich später mit den Kollegen zerstritten und danach mit mehr oder weniger Erfolg eine Solokarriere anstrebten, kennt die Popgeschichte zur Genüge, ob sie nun John Lennon, Morrissey oder Roger Waters heißen. Und auch das Verhalten von Ray Beam als stinkreicher, aber ziemlich verzweifelter Typ mit hohem Nutten- und Koks-Verschleiß ist doch recht klischeehaft.

Da fand ich andere Figuren doch erfrischender, wie z.B. Caprice, die untersetzte Bedienung im Diner, die sich frisch verliebt und dennoch nicht ausschließlich im siebten Himmel schwebt.

 Benjamin: Ich bin allerdings durchaus der Meinung, dass Alex Robinson Ray ganz bewusst so klischeehaft angelegt hat, wo ich dir übrigens Recht gebe. Man muss sich meines Erachtens vor Augen führen, dass Musik innerhalb der Geschichte einen hohen Stellenwert einnimmt, und der Autor, obwohl sämtliche genannten Bands, Künstler, Alben, Songs nicht real existieren, dennoch akribisch Rays Vergangenheit darstellt, und ihn an jeder Stelle genau so darstellt, wie er ihn haben will. Schließlich ist Rays Leben sowas wie ein Grundthema des Bandes und er wird als Figur darin sehr überzeugend und clever für weitere Verwicklungen und Interaktionen mit den anderen Personen benutzt. Im Grunde sieht man gleich auf Seite 1, auf der Rays Karriere an ihm vorüberzieht und er einen inneren Monolog führt, dass Robinson den Charakter versteht und begreift, wie er ihn im Folgenden sezieren kann. Der Musiker, die Öffentlichkeit, sein soziales Umfeld, die Fans: Rays zentrale Rolle liegt auch in der perspektivisch angelegten Erzählweise begründet.

Thomas: Okay, dich hat also der Ray-Beam-Charakter mehr beeindruckt als mich. Vielleicht liegt es auch daran, dass für mich der große Höhepunkt, der Zusammenprall aller Handlungsstränge im Kapitel Eins (wie bereits erwähnt wird rückwärts von 50 bis 1 gezählt), nicht sonderlich überraschend kam. Was dort geschieht, zeichnet sich bereits frühzeitig ab. Nichtsdestotrotz ist diese Sequenz von Robinson wunderbar umgesetzt, er spielt hier virtuos mit diversen Stilmitteln des Comics.

Überhaupt ist Robinson ein äußert variantenreicher graphischer Erzähler. Das hat mir an Ausgetrickst mit am Besten gefallen: die Vielfalt der Stilmittel, die angewandt werden. Von völlig stummen Sequenzen bis zu äußerst textreichen Passagen, von sehr kleinteilig aufgebauten Seiten bis hin zu surrealen Splashpages. Alex Robinson mag vielleicht kein begnadetes Zeichengenie sein (seine Figuren und Gesichter wirken manchmal etwas unbeholfen), das spielt aber keine Rolle, da er in Sachen Storytelling und Seitenaufbau wirklich groß ist.

 Benjamin: Stimmt, gerade aufs Ende hin setzt er die Szenen variantenreich und überraschend um. Aber auch vorher werden die Panels immer wieder neu angeordnet und die Seiten sind mal textlastig, mal aufs Optische reduziert, wie du es beschrieben hast. Das ist, gerade mit Bedacht auf die hohe Seitenzahl, ganz groß. Im Übrigen fand ich persönlich die Mimik der Personen immer stimmig, was ja bei sozialer Interaktion auch wichtig ist, um die Gefühle gut vermitteln zu können. Nein, da hab ich nichts auszusetzen, die Zeichnungen kommen ohne viel Schnörkel und Farbe aus, aber bei diesem Band passt das einfach.

Thomas: Absolut. Alles in allem ist Ausgetrickst für mich eine der lesenswertesten Comic-Veröffentlichungen des Jahres 2007. Unter dem Schlagwort „Graphic Novel“ wird inzwischen ja alles mögliche verkauft, aber hier ist das Wort vom Roman in Comicform wirklich angemessen. Ein kleiner Makel ist höchstens die nicht immer elegante deutsche Übersetzung. Diese bleibt an einigen Stellen dem englischen Original so treu, dass recht ungelenk klingende deutsche Sätze herauskommen, die man so einfach nicht sagen würde.

Benjamin: Ist mir eigentlich nicht so aufgefallen. Solange solche ungelenken Satzkonstruktionen in der Übersetzung aber nicht überhand nehmen, würde ich sowas auch wenig Gewichtung in der Gesamtwertung beimessen. Für mich steht fest, dass Ausgetrickst eine der gelungensten Publikationen der letzten Jahre im Sektor Graphic Novel ist. In der Tat kann man das „Trendprädikat“ Graphic Novel hier getrost verwenden, da man sich in dieses dicke Buch wirklich wie in einen guten, langen Roman reinlesen und vertiefen kann. Ich persönlich war beim Lesen begeistert.

Ausgetrickst
Edition 52, Oktober 2007
Text und Zeichnungen: Alex Robinson
Softcover; schwarz-weiß; 352 Seiten; 22,00 Euro
ISBN: 978-3-935229-54-8

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Bildquelle: Edition 52