Rezensionen

FreakAngels 1 (US)

Cover von Freakangels 1Der von mir allein schon wegen Transmetropolitan geschätzte Autor Warren Ellis startete im Februar 2008 den kostenlosen Webcomic FreakAngels. Jede Woche erscheinen sechs neue Seiten, die jeweils eine Episode darstellen.
Zentrales Thema sind zwölf junge Erwachsene, die telepathische Fähigkeiten besitzen und anscheinend vor sechs Jahren derart Mist gebaut haben, das sich die Welt grundlegend geändert hat.
Das London, das sie bewohnen, ist überflutet und bildet nun den Rahmen für eine postapokalyptische Welt, als deren Beschützer sich unsere Protagonisten sehen – denn niemand weiß, dass sie die Katastrophe zu verantworten haben.

Der Teaser-Text fasst das Szenario so zusammen: „23 years ago, twelve strange children were born in England at exactly the same moment. Six years ago, the world ended. This is the story of what happened next.“

Die ersten 24 Episoden, also 144 Seiten, bilden den ersten Band, welcher auch gedruckt über Avatar Press sowohl als Soft- als auch als Hardcover erhältlich ist (der zweite Band ist bereits ebenfalls erhältlich).

Ellis lässt sich Zeit mit der Einführung der Figuren und der Geschichte selber. Nach und nach lernen wir die einzelnen Mitglieder der Gruppe kennen, die dankenswerterweise nicht eindimensional präsentiert werden, sondern des öfteren Haken schlagen und eine unerwartete Seite an ihnen zeigen dürfen. So ergeben sich nicht die typischen Stereotypen (der Intellektuelle, der Sportliche, das Dickerchen, die Sanfte, …), auch wenn manche Figuren wie zum Beispiel das Großmaul KK oder der frustrierte und damit potenziell gefährliche Luke ganz gut in Schubladen passen – zumindest momentan. Im ersten Band werden übrigens noch nicht alle Hauptfiguren vorgestellt – wer den Nerv hatte mitzuzählen, der freut sich noch auf zwei neue Gesichter.
Mit den telepathischen Fähigkeiten kommt auch eine Art eingebaute Walkie-Talkie-Funktion, so dass sich die Protagonisten, egal wo sie gerade sind, miteinander verständigen können. Eine wirkungsvolle Methode, diese Gedanken abzuschirmen, hat Karl gefunden, der sich einfach eine Kappe aus Aluminium gebastelt hat, was eine Remineszenz an die Tin-Foil-Hat-Theorie ist.

Handlungspotenzial bieten der abtrünnige Mark, der marodierend durch’s Hinterland zieht und Menschen so manipuliert, dass sie sich zu den FreakAngels aufmachen, um sie zu erledigen. So geschehen mit Alice, dessen Brüder durch Marks Hand gestorben sind und die sich dafür jetzt rächen will. Auf recht rabiate Art kann sie vom Gegenteil überzeugt werden. Über sie als Vehikel vermittelt Autor Ellis uns Neueinsteigern seine erschaffene Welt nach der Flut.
Eine zweite Gefahr droht durch die Menschen des New Cross Camps, über die man noch nicht viel erfährt. Eins ist klar – Gutes führen sie nicht im Schilde. Am Ende des ersten Bandes von FreakAngels greifen sie die Stadt und deren Bewohner mit Waffen an. Aber auch hier kann Ellis wieder mit ein paar Überraschungen punkten, was die Geschichte trotz des zum Teil langsamen Flusses bis jetzt angenehm unvorhersagbar macht. Offen bleibt bislang auch, was genau überhaupt zu der Katastrophe geführt hat. Und über die Vergangenheit und den Grund für das Anderssein gab es bisher noch nicht mal Andeutungen.
Wie man im entsprechenden Wikipedia-Artikel nachlesen kann, hat sich Ellis für diese Serie übrigens von John Wyndhams Buch The Midwich Cuckoos (verfilmt als Village of the Damned) inspirieren lassen.

Die Warnung auf der Website, dass FreakAngels nur für eine erwachsene Leserschaft gedacht ist, ist berechtigt. Neben der hohen Quote von Schimpfwörtern, deren Einsatz sich mir außer zum Selbstzweck nicht immer erschließt, gibt es im hinteren Teil des ersten Bandes einige deutliche Gewaltszenen. Leider ist es aber wie bei vielen Comics, die für den US-Markt produziert sind, wieder so, dass „recommended for mature audiences“ um Gottes willen nicht heißt, dass irgendwas Logisches gezeigt wird, was unbedeckte menschliche Körper angeht. Denn obwohl das Thema Sex gerne und ausführlich in FreakAngels diskutiert wird, werden natürlich alle kritischen Körperstellen züchtig bedeckt. Und selbst eine Protagonistin, die offensichtlich den ganzen Tag nichts anderes macht, als sich im Bett mit einem Dutzend anderer Damen- und Herrschaften zu vergnügen, hat auf jedem Bild Unterwäsche an. Also wie immer: blutige Gewalt ja, harmlose nackte Körper nein.

Beispiel Freakangel 1Die Zeichnungen von Paul Duffield sind – schon allein angesichts der Tatsache, dass er Woche für Woche sechs recht aufwändig kolorierte Seiten abliefert – von guter Qualität. Besonders hervorzuheben ist, dass er viel Hintergrund einbaut, so dass das Setting dieses postapokalyptischen Londons eine bestimmte Stimmung herüberbringt, die ihren Teil der Geschichte ausmacht. Ein Mangaeinfluss in den Zeichnungen ist deutlich zu erkennen (wobei ich mich frage, warum bei Manga so oft Mittel- und Ringfinger wie zusammengeklebt erscheinen müssen), die Männer wirken recht androgyn.  Das ist auch kein Wunder, da er aus der Manga- und Anime-Ecke kommt, wie er hier im Interview erzählt. Dass er kein ausgebuffter Profi ist, merkt man an manchen Problemen in der Räumlichkeit, falschen Proportionen u.ä., trotzdem ist seine Leistung für den zeitlichen Druck, der dahinter steht, bemerkenswert (nach etwa 24 Seiten hat er sich allerdings verständlicherweise Hilfe für einen Kolorierungsschritt geholt). Das strenge Seitenlayout ruft geradezu sehnsuchtsvoll danach, mal aufgebrochen zu werden, aber dafür ist Warren Ellis wohl mehr verantwortlich zu machen als Paul Duffield.

Die Website selber ist gut und angenehm einfach gestaltet, in einem dazugehörigen Forum lockt die direkte Diskussion. Die Folgen können nacheinander gelesen oder auch direkt angewählt werden, was bei aktuell 61 Folgen sehr praktisch ist. Ab und zu gibt es eine Unterbrechung  der Comicseiten im wöchentlichen Rhythmus, in der Warren Ellis ein wenig erzählt.

Ein interessantes Experiment also, das hervorragend zu der gerade aktuellen Debatte „Machen kostenlose Webcomics den Markt kaputt?“ passt.  Dass dies nicht so sein muss, zeigt das Beispiel FreakAngels (Aussage Avatar Press zum Start der ersten Printausgabe: „All versions of the HC are available to order direct. All the copies sent to comic stores are selling blindingly fast, so they may not be available for long.“) Nicht nur der Comic im Print, sondern auch Merchandise-Produkte tragen ihren Anteil zur Finanzierung bei.
Avatar Press-Gründer William Christensen zu dem Thema „FreakAngels als frei zugänglicher Webcomic“: „There are some obvious benefits, like reaching a wider audience, and getting instant feedback. It also gives Warren a chance to play with a weekly format-which is a pace he’s said he’d like to explore. And the opportunity for a community to form around the work is one of the key things that is happening here.“

Abgesehen vom albernen Titel „FreakAngels“ ist die Serie nach meinem Geschmack. Etwas behäbig, aber gleichzeitig spannend und nachvollziehbar genug, so dass ich mich gleich daran mache, den nächsten Band online zu lesen. Und ich schließe nicht aus, mir die Comics zu kaufen, um sie in der Hand zu haben. Dazu werde ich jetzt aber erstmal schauen, wie es weitergeht. Leider gibt es keine Extras im Print, dies halte ich als zusätzlichen Kaufanreiz generell für sinnvoll (wie es z.B. Nina Ruzicka bei Der Tod und das Mädchen erfolgreich durchführt).

FreakAngels 1 (US)
Avatar Press, November 2008
Text: Warren Ellis
Zeichnungen: Paul Duffield
kostenlos auf der Website freakangels.com zu lesen, hier startet der Comic
gedruckt: 144 Seiten, farbig, Hard- und Softcover; SC: 19,99 USD
, HC: 27,99 USD

Bedächtige, trotzdem spannende Endzeit-Erzählung
Softcover:
einkaufswagen cc

nlintX

Hardcover:
nlintX

Bilder aus FreakAngels © Warren Ellis und Paul Duffield